Auftaktkonferenz zum internationalen Forschungsprojekt "Ethik der Digitalisierung"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 17. August 2020

Der Bundespräsident hat am 17. August zu einer Konferenz in Schloss Bellevue eingeladen, die den Auftakt zu dem internationalen Forschungsprojekt "Ethik der Digitalisierung" bildete. In seiner Ansprache zu Beginn der Veranstaltung sagte er: "Die internationale Verständigung über ethische Standards zur Digitalisierung wird immer wichtiger, wenn wir auch in Zukunft ein durchgängiges, offenes, freies und kreatives Internet wollen, wenn die Digitalisierung nicht zur Dystopie werden soll."

Herzlich willkommen im Schloss Bellevue! Das gilt für Sie hier im Saal, das gilt selbstverständlich auch für all die vielen Menschen, die sich digital zugeschaltet haben. Es ist schön, dass Sie alle dabei sind.

Nicht erst seit die Corona-Pandemie unsere Welt fest im Griff hat, spüren wir, dass unser Leben, unser Miteinander, unsere Kommunikation eine neue, digitale Dimension hinzugewonnen haben. Dass wir aber heute hier im Saal nur ein kleiner Kreis von Anwesenden sind, tatsächlich aber ein sehr viel größerer Kreis von Teilnehmern und Diskutanten im Netz, ist der Pandemie geschuldet. Doch welche Situation könnte deutlicher und dringlicher machen, worum es heute gehen soll: Es geht um die Besiedelung des digitalen Raums.

Der Arbeitsplatz, das Klassenzimmer, die Theaterbühne, der Konzertsaal, ja selbst das Parlament sind vor dem Virus in diesen digitalen Raum ausgewichen. Und wir alle, die wir mitgezogen sind, fragen uns: Welche Bedingungen finden wir vor? Sind digitale Räume sicher und zuverlässig? Ist unsere Privatsphäre, sind unsere Daten vor fremdem Zugriff geschützt? Welche Regeln gelten, und werden sie eingehalten? Wir erinnern uns an Datenskandale, an Cambridge Analytica, und verfolgen den Streit um digitale Technologien und ihre außenpolitische Bedeutung, die Auseinandersetzungen um Huawei und TikTok.

Die Fragen nach unserem Umgang mit der Digitalisierung sind in den vergangenen Monaten und Jahren nicht weniger geworden. Und nun zeigt uns die Pandemie noch deutlicher, wie eng wir durch Handel und Technologie miteinander vernetzt sind. Die Revolution der Algorithmen, die gewaltigen Auswirkungen der digitalen Kommunikation sind eine globale Herausforderung. Kein Staat der Welt kann sich ihr entziehen, keiner könnte sie im Alleingang bewältigen.

Deshalb müssen wir miteinander ins Gespräch kommen, uns fragen, welche Regeln wir im digitalen Raum vorfinden und welche wir uns geben wollen. Sind wir eine globale Internetgemeinde, oder bleiben wir auch im Netz Amerikaner, Chinesen, Europäer? Welche Probleme treiben uns um? Was können wir voneinander erwarten? Und welche Gemeinsamkeiten gibt es, auf die wir bauen können? Diese Fragen müssen wir uns stellen, wenn uns an Frieden und Wohlstand in einer vernetzten Welt gelegen ist.

Vor zwei Jahren, 2018, bin ich auf den Spuren der digitalen Umwälzung nach Kalifornien und nach China gereist. Hier – im Silicon Valley – die Vorreiter der liberalen, globalisierten Datenökonomie, deren Produkte von Milliarden Menschen genutzt werden, deren Innovationskraft unser Leben verändert und die mit täglich wachsenden Datenbergen wirtschaftlichen Gewinn anstreben. Und dort – in Guangzhou und Peking – ein Staatskapitalismus mit enormen digitalen Ambitionen, mit einem eigenen Internet, einem nahezu abgeschotteten, staatlich kontrollierten System, das in unglaublicher Geschwindigkeit wächst und sich nahezu täglich erneuert – und das dabei immer dem zentralen Kontrolldrang und Überwachungsdruck des Parteiapparats dienen muss. Und als ich von diesen Reisen nach Europa zurückkehrte, tobte hier die Debatte um die Datenschutz-Grundverordnung der Europäischen Union, ein Regelwerk für den Schutz persönlicher Daten in der digitalen Welt. Gerade diese Debatte hat mir gezeigt, dass selbst innerhalb der westlichen Gesellschaften die Vorstellungen von richtig und falsch in der Digitalpolitik oft weit auseinanderliegen. Deshalb eines vorweg: Der übliche Vergleich, hier das europäische, dort das amerikanische Modell, bringt uns oft nicht weiter. Das sollten wir mit bedenken, wenn wir über Gemeinsamkeiten und Unterschiede reden.

Das Internet umspannt die gesamte Welt. Digitalfirmen aus Amerika, Europa und auch aus China bedienen Kunden auf allen Kontinenten, meist mit großer Wendigkeit und enormer Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche politische Systeme. Nach der anfänglichen Euphorie fragen viele Staaten immer häufiger, wie ihre räumlich begrenzte Gesetzgebung, ihr begrenzter Einfluss auf den digitalen Wandel mit einem weltweiten Netz zu vereinbaren sind. Die einen nutzen neue Technologien wie künstliche Intelligenz, autonome Systeme oder digitale Infrastruktur als strategischen Arm der Außenpolitik, die anderen setzen auf die Macht ihres Marktes, die Kaufkraft ihrer Verbraucher oder auf die Unentbehrlichkeit ihrer Produkte. Der sich in diesen Monaten aufschaukelnde Weltkonflikt zwischen den USA und China muss uns alle besorgen. Bestrebungen, das Internet zum Zweck staatlicher Kontrolle und wirtschaftlicher Vorteile zu renationalisieren und aufzuspalten, ein Splinternet gewissermaßen, sind ein Ausdruck dieses Konflikts.

Ich bin davon überzeugt: Weder Abschottung und Kleinstaaterei noch Dominanzstreben und Allmachtsphantasien dürfen unseren gemeinsamen Weg in die digitale Zukunft bestimmen. Wir steuern in eine Sackgasse, wenn wir unsere Antwort auf die Digitalisierung aus einem Handbuch der Staatskunst des 19. Jahrhunderts abschreiben. Ein neues Jeder-gegen-jeden, damit dürfen wir uns nicht zufriedengeben. Dort wird die Lösung nicht zu suchen sein.

Vor 75 Jahren endete der zerstörerischste aller Kriege, ein von Deutschland entfesselter Weltkrieg. Der deutsche Blick auf die Welt ist ohne diese Erfahrungen nicht zu erklären. Die Erfahrung dieses Krieges hat aber nicht nur mein Land verändert, sondern sie hat uns alle, die Gemeinschaft der Staaten, nach 1945 ein Stück weit zur Vernunft kommen lassen. Menschenrechtscharta und die Vereinten Nationen, Bretton Woods und regionale Gemeinschaften wie die EU, Gewaltverbot und kollektive Sicherheit: Vor 75 Jahren entschieden sich unsere Vorfahren über alle Grenzen von Geographie, Kultur, Abstammung und Religion hinweg, das Recht der Völker an die Stelle des Rechts des Stärkeren zu setzen. Sie schufen Regelwerke, zimmerten einen von gemeinsamen ethischen Mindeststandards getragenen normativen Rahmen mit Regeln und Institutionen.

Natürlich war und ist diese Ordnung nicht perfekt, oft dysfunktional, nie für alle gleichermaßen da. Und sie ist keinesfalls für alle Zeit gesichert, sondern wird seit einigen Jahren immer öfter in Frage gestellt und angefochten, auch von so manchem ihrer Begründer. Aber diese internationale Ordnung hat uns gezeigt, dass Dialog und Verständigung allemal mehr Frieden und Wohlstand bringen als Abschottung und Konfrontation. Deshalb sollten wir sie nicht leichtfertig über Bord werfen, sondern wir müssen sie verteidigen – und verbessern.

Wenn wir nicht wollen, dass die Welt sich weiter fragmentiert, dass abgeschottete politische und technologische Räume entstehen, zwischen denen es kein Vertrauen, keine Schnittstellen, keine Verständigung mehr gibt, dann müssen wir selbst die Initiative ergreifen zum Dialog. Zu einem Dialog, der bei allen Differenzen die ernsthafte Anstrengung des Verstehens unternimmt, der auf Verständigung zielt und an die Logik der Kooperation glaubt. Denn Zusammenarbeit und Kooperation brauchen wir heute mehr denn je. Gerade weil die digitale Revolution in all unseren Ländern ähnliche Fragen aufwirft und unser Verhältnis zueinander aufwirbelt, geht es um nicht weniger als die Frage, welche Ordnung die digitale Welt künftig leiten soll. Um eine solche Ordnung zu konzipieren, brauchen wir den Dialog über gemeinsame ethische Mindeststandards, die über alle Grenzen hinweg ein normatives Fundament bilden können.

Es wäre doch verwunderlich, wenn die vielen unterschiedlichen Prägungen unserer Partner in Europa, Amerika, China und darüber hinaus nicht zu unterschiedlichen Antworten auf neue Herausforderungen führten. Es wäre naiv zu glauben, aus nationalen Regeln und Grundsätzen für soziale Netzwerke, für Massendatenauswertung, für autonome Systeme bis hin zu Kriegswaffen oder für die technischen Grundlagen des Internets würde schon irgendwie ein sinnvolles Ganzes entstehen. So ist es nicht! Und so wird es nicht sein! Und wenn wir nicht wollen, dass in der digitalen Zukunft bald das Recht des Dschungels gilt, dann müssen wir uns um eine funktionierende internationale Ordnung kümmern – und dafür werben, dass andere mit uns daran arbeiten.

Die internationale Verständigung über ethische Standards zur Digitalisierung wird immer wichtiger, wenn wir auch in Zukunft ein durchgängiges, offenes, freies und kreatives Internet wollen, wenn die Digitalisierung nicht zur Dystopie werden soll. In vielen Bereichen des Digitalen fehlen uns noch Institutionen und Regeln, die Zusammenarbeit und Kooperation der Staaten und Gesellschaften ermöglichen könnten. Ein gemeinsames Fundament, auf dem Vertrauen wachsen kann, denn Vertrauen ist unerlässlich, wenn arbeitsteilige Wirtschaftsbeziehungen aufrechterhalten werden sollen. Sie sichern unseren Wohlstand. Ja, vieles mag uns trennen. In vielen Bereichen mögen unsere Interessen über Kreuz liegen. Viele Unterschiede erscheinen heute vielleicht unüberbrückbar. Aber der Versuch, sich auf grundlegende Mindeststandards einer Ethik der Digitalisierung zu einigen, ist unsere Mühen allemal wert. Und genau deshalb sind wir heute hier.

Wir wollen, gemeinsam mit der Stiftung Mercator und dem Network of Centers, in den nächsten Stunden ein internationales wissenschaftliches Projekt auf den Weg bringen, das sich mit den globalen Grundlagen einer Ethik der Digitalisierung befasst.

Wir in Deutschland und in Europa haben natürlich auch unsere eigenen Vorstellungen. Hier kann ich sagen: Für mich ist die Ethik der Digitalisierung zuallererst eine Ethik der Freiheit!

Technologie soll uns Menschen dienen und zu mehr Selbstbestimmung führen. Die virtuelle Realität darf nicht zur einzigen Realität werden, sie darf unsere öffentlichen Räume und menschlichen Begegnungen niemals ersetzen. Digitale Technik soll Unterdrückung überwinden und Armut lindern, Debatten ermöglichen und nicht vergiften, Bildung und Aufklärung verbreiten, wenn möglich Umwelt schützen und Ressourcen schonen. Die Digitalisierung soll unsere Freiheit mehren und Unfreiheit überwinden. Die Digitalisierung soll dem Menschen dienen – und nicht umgekehrt.

Zugleich ist jede Ethik der Freiheit auch eine Ethik der Verantwortung: Freiheit braucht Regeln – und neue Freiheiten brauchen neue Regeln. Es geht um die richtige Balance zwischen Freiheit und Regulierung, und das ist die Aufgabe von Politik. Das gilt für uns in Deutschland, aber ich glaube: Es gilt auch für unsere gemeinsame internationale Ordnung. Ja, es stimmt, wir alle bringen unsere eigenen Prägungen, unsere eigene Sicht auf die Welt mit an den Tisch. Wir kommen nicht weiter, wenn wir sagen: Ich habe Recht und deshalb alle anderen Unrecht. Wir können nicht erwarten, dass die eigene Perspektive von den anderen ohne Weiteres verstanden, geschweige denn als vorgegeben akzeptiert wird. Umso wichtiger ist es, den Dialog zu suchen. Denn nur wenn wir ernsthaft versuchen, einander zu verstehen, können wir Gemeinsamkeiten finden, Mindeststandards und Regeln entwerfen. Darum muss es uns allen gehen!

Liebe Fellows, liebe Forscherinnen und Forscher, liebe Konferenzteilnehmerinnen und Konferenzteilnehmer, in den kommenden Monaten werden Sie als Technologen und Gesellschaftswissenschaftlerinnen versuchen, gemeinsame Impulse und Antworten für die internationale Debatte zu geben. Ihre Arbeit, das kann ich Ihnen versichern, soll keine akademische Fingerübung bleiben, im Gegenteil. Ob in der Wissenschaft, in der Wirtschaft oder in der Zivilgesellschaft, ob in der Politik in ihren Heimatländern oder bei der politischen Suche nach globalen Mindeststandards: Wir alle brauchen Ihren Rat.

Gelungene Politik, national wie international, gleicht Interessen aus und findet mit Hilfe ethischer Grundsätze Regeln für ein gedeihliches Zusammenleben. Die Digitalisierung verändert unsere Gesellschaft, das Leben jedes Einzelnen grundlegend. Deshalb verlangt auch sie nach einem ethischen Rahmen. Wie viele Daten geben wir preis? Welche Regeln gelten im Internet? Welche Entscheidungen trifft der Algorithmus? Was passiert mit meinem Job, wenn der Betrieb digital wird? Auf diese Fragen erwarten die Menschen Antworten der Politik. Und zwar zu Recht. Deshalb brauchen wir diese Debatte über eine Ethik der Digitalisierung. Entscheidend ist dabei vor allem anderen, dass wir Ethik nicht nur als individuellen Tugendappell verstehen, sondern als Fundament einer besseren Politik. Ihr normativer Impuls soll gute Regeln und Gesetze ermöglichen, soll eine gemeinsame Grundlage für das Zusammenleben der Völker schaffen. Das und nicht weniger ist unser Ziel.

Sie haben nun das Privileg, sich als Fellows genau diesen Fragen zu widmen. Trauen Sie sich, auch außerhalb der eingetretenen Pfade zu denken und zu schreiben! Bringen Sie Ihre Ideen hinein in diese große gesellschaftliche Debatte! Und vor allem haben Sie keine Scheu vor der Politik – nirgendwo sonst werden Expertinnen und Experten wie Sie so dringend gebraucht!