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Detlef Scheele (SPD) ist seit 2017 der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit.

© Stefan Boness/Imago

Detlef Scheele im Interview: „Endet der Lockdown nicht bald, hätte das eindeutig Folgen“

Detlef Scheele, Vorstandschef der Bundesagentur für Arbeit, über die Gefahr von weiteren Entlassungen – und Hartz IV als Schimpfwort.

Detlef Scheele (SPD) ist seit 2017 der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit – eine der größten Behörden in Deutschland. Im Interview spricht er über die Kontrolle von Kurzarbeit und um welche Gruppe er sich während der Pandemie besonders sorgt.

Herr Scheele, Anfang Dezember hielten Sie die Auswirkungen des Winter-Lockdowns auf den Arbeitsmarkt für gering. Ist jetzt immer noch alles halb so schlimm?
Bei den aktuellsten Zahlen habe ich immer noch nicht den Eindruck, dass sich die Situation aus dem letzten Frühjahr wiederholt. In den stark getroffenen Branchen wurden Mitarbeiter recht früh entlassen, insbesondere Ungelernte und befristet Angestellte. An der Kernbelegschaft halten die Arbeitgeber mit Blick auf den Impfstoff fest und nutzen, wenn nötig, die Kurzarbeit. Sollte sich die Virus-Mutante jetzt aber durchsetzen und der Lockdown nicht bald enden, hätte das eindeutig Folgen.

Gastgewerbe, Veranstaltungen, Tourismus: Seit Monaten stehen ganze Branchen still. Wie kann es sein, dass es nicht zu viel mehr Entlassungen kommt?
Im Vergleich zum Vorjahr zählen wir gut 470 000 mehr Arbeitslose. Dass es nicht mehr sind, hat mehrere Gründe: Vor allem die Kurzarbeit hat rechnerisch bis zu drei Millionen Jobs gerettet, außerdem gab es im verarbeitenden Gewerbe keine größeren Entlassungen. Das war zum Beispiel eher im Tourismus der Fall, etwa im Reisebüro an der Ecke. Dort verlieren aber immer nur Einzelne ihre Stelle. Das ist für jeden Betroffenen schwer, aber es sind insgesamt keine hohen Zahlen. Im Einzelhandel und der Gastronomie waren es oft Minijobber, die nicht mehr beschäftigt wurden – insgesamt eine halbe Million Menschen.

Kommen mit Verzögerung bald mehr Jobverluste und Insolvenzen?
Mit unseren Daten können nicht in die Zukunft blicken. Bislang sehen wir weder eine Entlassungs- noch Insolvenzwelle. Allerdings: Wenn das kleine Reisebüro oder das griechische Lokal um die Ecke schließt, bekommen wir das auch nicht mit, weil sie sehr wahrscheinlich keine Insolvenz anmelden, sondern einfach schließen.

Wie viel hat allein die Kurzarbeit 2020 gekostet?
Im vergangenen Jahr hat die Bundesagentur für Arbeit dafür 22 Milliarden Euro ausgegeben. Für dieses Jahr rechnen wir mit 6,1 Milliarden Euro.

Die Arbeitsagentur will ab April alle Anträge auf Kurzarbeit noch einmal überprüfen – das könnte bis Ende 2022 dauern.
Die Arbeitsagentur will ab April alle Anträge auf Kurzarbeit noch einmal überprüfen – das könnte bis Ende 2022 dauern.

© Jens Büttner/dpa

Das wird seinen Preis haben.
Wir werden nicht an Hilfen kürzen! 2021 werden wir – nach aktuellem Stand – ein Gesamtdefizit von 9,3 Milliarden Euro haben, was der Bund mit Steuergeldern ausgleicht. Sonst kann ich an fünf Fingern abzählen, dass wir einen solchen Schuldenberg auch in vielen Jahren nicht hätten tilgen können. 2022 sollten wir dann ohne Belastungen ins Jahr starten und 2023 in der Lage sein, wieder Rücklagen zu erwirtschaften. Wenn ich daran denke, wie oft ich vor der Pandemie Diskussionen über die Höhe unserer Rücklagen geführt habe...

Es gab Forderungen, den Beitragssatz für die Arbeitslosenversicherung zu senken.
Jetzt wissen wir, dass es richtig war, an der Rücklage nicht zu rütteln. Und ich hoffe, dass die BA irgendwann auch wieder welche bilden kann. Wir sind schließlich eine selbstverwaltete Behörde. Da sollte nicht die Regierung über den Haushalt entscheiden, sondern der Verwaltungsrat.

Immer wieder hört man, dass Menschen offiziell in Kurzarbeit sind, aber tatsächlich mehr arbeiten. Sie hingegen sagen: Es gibt kaum Missbrauch.
Wir haben bislang 4250 Hinweise dazu bekommen und gehen dem nach. Meistens können wir aber keinen Missbrauch feststellen.

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Im April beginnen Sie mit den Kurzarbeit-Prüfungen.
Das ist normales Verwaltungshandeln. Wir wollen allerdings früher als sonst damit beginnen, weil wir davon ausgehen müssen, dass wir – wie auch Betriebe – bei den Anträgen mehr Fehler gemacht haben als üblich, zum Beispiel eine vergessene Unterschrift. Denn zu Beginn der Pandemie haben wir in der Spitze 11500 Mitarbeiter für die Kurzarbeit eingesetzt. Vorher waren es 700. Plötzlich wurden Sekretärinnen damit beauftragt, Arbeitsvermittler, Reha-Berater. Bestimmt ist da nicht alles ganz korrekt gemacht worden – zumal wir das Geld nach sechs bis acht Tagen ausgezahlt haben. Alle Anträge wurden aber unter Vorbehalt beschieden, in der Abschlussprüfung können wir das nun korrigieren.

Wie aufwändig wird das?
Es gibt Prüfteams, die nur das tun. Sie werden nicht nur Stichproben machen wie während der Finanzkrise, sondern alle Betriebe überprüfen. Pro Fall werden vier Stunden eingeräumt, was mehr als doppelt so viel ist wie üblich. Uns wird das wahrscheinlich bis Ende 2022 beschäftigen.

Sie wollen verhindern, dass sich Arbeitslosigkeit verfestigt. Andererseits können Jobcenter momentan kaum etwas tun. Weiterbildungen können nicht stattfinden, Unternehmen stellen kaum neu ein.
Dass wir wieder rund 990 000 Langzeitarbeitslose haben, ist das Schwierigste, das uns passieren konnte. Viele von ihnen sind ungelernt, älter oder haben zum Beispiel geringe Sprachkenntnisse, doch Helferjobs werden generell weniger. Wir können die Menschen gerade kaum in Qualifizierungsmaßnahmen schicken und für den Arbeitsmarkt aktivieren. Freie Stellen gibt es auch wenig. Das zu korrigieren, wird nicht leicht.

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Auch Berufsanfänger haben es gerade schwer. Was macht es psychisch mit jungen Menschen, wenn sie nicht ins Arbeitsleben starten können?
Wer gerade ein Studium oder eine Berufsausbildung in einem begehrten Bereich abgeschlossen hat, muss sich mittelfristig nicht sorgen. Nach der Krise werden viele qualifizierte Menschen gebraucht. Auch deswegen, weil die Zuwanderung stockt. Da möchte ich Mut machen, auch wenn es für den ein oder anderen gerade eine Durststrecke sein mag. Und: Niemand muss Probleme bei der Arbeitssuche auf sich selbst beziehen oder ein schlechtes Gewissen haben, wenn er gerade nichts machen kann. Sie oder er ist nur Leidtragender der Situation.

Vielen wird es schwerfallen, das so gelassen zu sehen.
Natürlich gibt es hier nichts schön zu reden. Was geschieht mit den Jugendlichen nach der Schule? Das ist für mich die Frage des Jahres. Wir können zurzeit nicht in die Schulen, Unternehmen bieten kaum Praktika an, Ausbildungsmessen finden nur virtuell statt. Es gibt weniger Lehrstellen und weniger Suchende. Wir haben weniger Kontakt zu den Jugendlichen. Schwierig ist das vor allem für jene, die besondere Unterstützung brauchen.

Arbeitsminister Hubertus Heil will Hartz IV über Corona hinaus reformieren: In den ersten zwei Jahren soll nicht mehr geprüft werden, wie groß die Wohnung der Betroffenen ist. Vermögen von bis zu 60 000 Euro sollen in der Zeit ebenfalls nicht angetastet werden. Was halten Sie davon?
Das mit der Wohnung finde ich sehr vernünftig. Ich war in Hamburg jahrelang Sozialsenator und Umzüge waren nicht möglich oder sogar kontraproduktiv: Da sollte eine Familie aus einer Wohnung in Altona ausziehen, die zu groß, aber wegen eines alten Mietvertrags günstig war, um am Stadtrand in einer kleinen, aber teureren Wohnung zu leben. In manchen Regionen macht die Regel Sinn, in Ballungszentren nicht. Der Kern des Gesetzes ist für mich aber etwas Anderes.

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Und zwar?
Dass wir Menschen in der Grundsicherung auch eine Umschulung anbieten können, die drei Jahre dauert, statt der bisherigen Begrenzung auf zwei Jahre. Das fordern wir schon lange. Damit könnten wir Langzeitarbeitslose richtig qualifizieren und sie müssen nicht jeden Job annehmen. Das verändert aus meiner Sicht wirklich etwas, zusammen mit dem jenem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, dass 100-Prozent-Sanktionen unzulässig sind.

Kürzlich wurden Sie für eine verkürzt zitierte Aussage zu Hartz IV kritisiert. Es hieß, Sie fänden den Regelsatz großzügig.
Ich habe gesagt, dass die Grundsicherung im europäischen Vergleich großzügig ist. Insbesondere deswegen, weil die Wohnung ja auch vom deutschen Staat bezahlt wird. Der Regelsatz an sich ist nicht viel, aber es kommt noch einiges hinzu, wie die kostenlose Fahrkarte oder das kostenlose Mittagessen in der Schule. Nimmt man alles zusammen, verschwimmt die Grenze zu jenen, die für niedrige Löhne arbeiten.

Höhere Hartz-IV-Beträge wären aus Ihrer Sicht also ungerecht.
Es muss fair bleiben für jene, die jeden Tag ihren Job machen – und es muss Anreize geben, vom eigenen Einkommen statt von staatlicher Hilfe zu leben. Dabei bleibe ich. Gleichzeitig befürworte ich, den Wohnraum zu schützen. Muss jemand mit wenig Geld auch noch darum bangen, ist das zu viel Druck, um aus einer schwierigen Lebenslage wieder heraus zu finden.

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Warum erregt Hartz IV die Gemüter so?
Erstmal sollten wir den Begriff Hartz IV weglassen.

SGB-II-Empfänger finden Sie besser?
Dafür bekomme ich sicherlich keinen Wortschöpfungspreis. Hartz IV wurde aber zu einem Schimpfwort. Die Bezieher seien faul, wollten nicht arbeiten – das hört man doch immer wieder, obwohl es auf die große Mehrheit überhaupt nicht zutrifft. Ansonsten möchte ich von den Kritikern mal realistische Lösungen hören statt nur Rufe nach etwas Anderem. Den Regelsatz auf 600 Euro erhöhen und die Wohnung bezahlen? Sie müssen das auch denen erklären können, die arbeiten und kaum mehr verdienen.

Sie haben noch einen Vertrag bis 2022. Was für einen Nachfolger wünschen Sie sich auf Ihrem Posten?
Das muss der Verwaltungsrat entscheiden. Sie oder er sollte Erfahrung mit einer größeren Organisation haben. Das wäre aus meiner Sicht wichtig. Selbst als ehemaliger Staatssekretär im Arbeitsministerium und Hamburger Senator war ich verblüfft, wie anspruchsvoll es ist, die BA zu verstehen.

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