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Brannten sich in kollektives Gedächtnis ein: die Gräber von Butscha Brannten sich in kollektives Gedächtnis ein: die Gräber von Butscha 

6 Monate Ukraine-Krieg: „Es ist wirklich ein Geheimnis des Bösen“

Am Mittwoch dauert das Unerträgliche schon sechs Monate: der Ukraine-Krieg begann am 24. Februar 2022 mit der russischen Invasion. Im Interview mit den Vatikanmedien bezeichnet der griechisch-katholische Großerzbischof von Kiew den Krieg als „globale Bedrohung“ und erinnert an die Rolle der Kirche als Verkünderin des Friedens.

Salvatore Cernuzio - Vatikanstadt

Für die päpstlichen Friedensaufrufe und Franziskus‘ Gesten der Solidarität mit dem ukrainischen Volk zeigt sich Schewtschuk in dem Gespräch tief dankbar. Franziskus habe auf die weltweiten Folgen des Ukraine-Krieges verwiesen und rüttele das Gewissen der Welt wach, so der Großerzbischof. Für die leidende Zivilbevölkerung seien in den Kriegsmonaten zudem der Einsatz von Kirchenvertretern vor Ort und die Aufnahme von Flüchtlingen in den europäischen Nachbarländern wesentlich gewesen.

Vatican News wollte von dem Oberhaupt der griechisch-katholischen Kirche in der Ukraine zunächst wissen, wie die Unterstützung der Zivilbevölkerung durch die Kirche im Kriegsgebiet überhaupt möglich ist. Die Fragen stellte Salvatore Cernuzio, der Schewtschuk telefonisch in Kiew erreichte.

Hier zum Nachhören

Ihre Seligkeit, wie hat die ukrainische Kirche ihre Mission im Krieg fortgesetzt, um konkret Hilfe in die Kampfgebiete zu bringen und denen Trost zu spenden, die ihre Freunde, Nachbarn, Familienmitglieder sterben sahen?

Zuallererst muss gesagt werden, dass die Kirche Teil des ukrainischen Volkes ist: Wir sind das leidende Volk, das Volk, das angegriffen wurde, die Opfer dieser ungerechten Aggression. In diesem Bewusstsein haben uns die Menschen immer wieder Hinweise gegeben, wie wir unseren Auftrag erfüllen sollen. Ich nenne dies das Sakrament der Anwesenheit. Die sichtbare Präsenz von Priestern, Mönchen und Bischöfen ist für unser Volk sehr wichtig, insbesondere in den jetzt besetzten Kampfgebieten. Wir sind bei ihnen geblieben. Und diese Gegenwart der Kirche stellt für die einfachen Leute die Gegenwart des Herrn dar. Denn die erste Frage des Volkes war: „Wo ist denn der Herr? Unter diesen dramatischen Bedingungen, wenn wir jeden Tag getötet werden, wo ist Gott?“ Auf diese existenzielle Frage hat die Präsenz der Kirche eine Antwort gegeben.

Und diese Präsenz führt immer wieder zu pastoralen Aktionen: Es ist uns gelungen, ein Kommunikationsnetz und auch Wege der humanitären Hilfe zu schaffen. Wir waren in der Lage, die sich schnell verändernde humanitäre Situation täglich zu analysieren und dann angemessen zu reagieren. Denjenigen, die evakuiert werden mussten, boten wir einen Transport an; denjenigen, die Nahrung brauchten, gaben wir Lebensmittel und andere Hilfsgüter; denjenigen, die Schutz brauchten, boten wir Unterschlupf in unseren Kirchen, in Klöstern, die als Luftschutzbunker genutzt wurden. Das war unsere Antwort: einstimmig, spontan, ohne ausdrückliche Befehle.

Während der sechsmonatigen Kämpfe haben Sie immer wieder betont, dass der Krieg „mit dem Frieden Gottes gewonnen werden kann und muss“ und dass dieses Wort heute gleichbedeutend mit dem Wort Liebe ist. Was bedeutet das für ein Volk, das, wie Sie sagten, jeden Tag mit Bomben und Tod rechnen muss?

Als Seelsorger sehen wir, dass die Menschen von Angst, Furcht und Wut beherrscht werden. Und es gibt diejenigen, die sie in Versuchung führen, indem sie den Hass gegen diejenigen schüren, die uns angreifen. Deshalb predigen wir Hirten das Evangelium des Friedens. Gerade indem wir auf diese Gefühle der Menschen eingehen, bezeugen wir den Gott, der die Liebe ist, den Gott, der die Quelle des Friedens ist.

Auch der Papst hat die Ukraine seit dem ersten Tag des Krieges mit ständigen Aufrufen zum Frieden und Initiativen zur Hilfe in den Mittelpunkt gestellt. Doch die Hauptsorge von Franziskus ist global: Die ganze Welt sei von dieser Barbarei bedroht. Wie kommen diese Worte bei Ihnen an?

Wir sind Papst Franziskus sehr dankbar, dass er sich in dieser Hinsicht zu unserer Stimme gemacht hat. Der Papst als Nachfolger Petri hat die besondere Gabe, in der Situation, die wir in der Ukraine erleben, eine globale Bedrohung zu sehen. Denn der Krieg in der Ukraine berührt die gesamte Menschheit; diese Verbrechen betreffen nicht nur die Ukrainer, sondern die ganze Welt. Deshalb sind wir dem Heiligen Vater wirklich dankbar, dass er unser Sprachrohr ist, auch dafür, dass er das Gewissen des Westens und der Welt aufrüttelt, indem er um Gebete für die Ukraine und weltweite Solidarität mit ihrem Volk bittet.

In diesen sechs Monaten haben Sie selbst trotz der Bombardierungen nie aufgehört, Ihre Stimme und Ihre Unterstützung durch Ihre täglichen Botschaften an die Ukrainer und andere zu äußern. Was hat Ihnen persönlich in dieser Tragödie Kraft gegeben?

Die Kraft, die mir in diesen Monaten gegeben wurde, ist die der pastoralen Verantwortung: Ich fühlte mich nicht nur für mich selbst, sondern vor allem für die Menschen verantwortlich. Ich habe also in erster Linie versucht, Menschen zu retten. Auch mit den Botschaften, die wir täglich verbreiten, begleiten wir unsere Leute. Viele haben gesagt, dass diese Nachrichten für sie eine Quelle der Ermutigung sind.

Die Ukraine hat erlebt, wie Millionen ihrer Landsleute die Qualen der Flucht und gleichzeitig Solidarität und Aufnahme in so vielen Ländern erfahren haben. Was möchten Sie denjenigen sagen, die ihre Türen für ukrainische Familien geöffnet haben?

Aus der Tiefe unseres Herzens kommt ein Wort der Dankbarkeit: Danke. Ich weiß, dass es zu wenig ist, einfach nur „Danke“ zu sagen, aber wir sind wirklich sehr dankbar für diese Offenheit. In Europa gibt es Flüchtlingslager für die Ukrainer, aber so viele Menschen öffneten erst ihre Herzen, dann die Türen ihrer Häuser, ihrer Familien, und so erwies sich die Solidarität als ein christlicher Wert schlechthin. Bitten wir den Herrn, all jene zu segnen, die dem leidenden ukrainischen Volk in dieser Zeit beistehen konnten.

Sie haben gesagt: „Der Mensch weiß leider, wie man Kriege anzettelt, aber dann wird er zum Sklaven des Krieges“. Was, hoffen Sie, kann dieser Sklaverei ein Ende setzen?

Wir erleben unmittelbar, dass der Krieg das mysterium iniquitatis ist, von dem der heilige Paulus sprach: Es ist wirklich ein Geheimnis des Bösen, das sich in dieser Welt auftut. Der Aggressor, der den Krieg beginnt, lebt in der Illusion, dass er die Regeln des Krieges beherrschen kann, aber das ist in der Tat eine Illusion. Denn vom ersten Schuss an ist der Krieg außerhalb der menschlichen Kontrolle. Und der Angreifer wird selbst zum Sklaven des Teufels, den er aus seinem Herzen geholt hat. Deshalb beten wir jeden Tag im Vaterunser: „Erlöse uns von dem Bösen“. Gott ist die Quelle des Friedens, er ist der Herr des Friedens. Wir glauben, dass nur er diesem Geheimnis der Ungerechtigkeit ein Ende setzen kann.

(vatican news – pr)

 

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23. August 2022, 15:50