Mittwoch, 22. März 2023

Zeitarbeit verursacht Millionenkosten

Online-Umfrage der Diakonie RWL legt enorme Steigerungen offen

Bis zu 150 Prozent mehr Einsatz von externen Zeitarbeitskräften, verbunden mit hohen Kosten für KiTas, Senioreneinrichtungen, Krankenhäuser und andere soziale Einrichtungen. Das sind zentrale Ergebnisse einer Online-Befragung zur Zeitarbeit, die das Diakonische Werk Rheinland-Westfalen-Lippe e.V. – Diakonie RWL in ihrer Mitgliedschaft durchgeführt hat. Bei allen Herausforderungen gibt es aber auch Lösungsvorschläge. Bei denen kommt es auf den Gestaltungswillen der Politik an.

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Krankenhaus und Gesundheit

Zeitarbeit nimmt in der sozialen Arbeit und im Gesundheitswesen erheblich zu. Das hat eine Online-Befragung der Diakonie RWL unter ihren rund 5.000 Mitgliedseinrichtungen ergeben: Insgesamt 510 Fragebögen haben Träger aus Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland beantwortet. Demnach tritt Zeitarbeit in jeder vierten Einrichtung auf, Tendenz stark steigend. Die fünf wichtigsten Erkenntnisse: 

1. Die Herausforderung: Zu wenige Arbeitskräfte für zu viel Arbeit 

Ursprünglich war Zeitarbeit dafür gedacht, den Betrieb in Belastungsspitzen aufrechtzuerhalten. Kam das Stammpersonal wegen temporärer Arbeitsverdichtung oder Krankheitsfällen an seine Grenzen, konnte flexibel und für einen kurzen Zeitraum Fachpersonal aus einer Verleihfirma hinzugebucht werden. Das hat sich geändert. Diakonische Träger melden seit Längerem hohen Bedarf an Arbeitskräften an. Offene Stellen bleiben länger vakant, teilweise können Pflegeeinrichtungen wegen des Personalmangels nicht alle Betten belegen. Ambulante Pflegedienste müssen Routen absagen, KiTas verkürzen Öffnungszeiten oder müssen tageweise Gruppen schließen. Da Zeitarbeitsfirmen hier flexibel unterstützen, folgt aus dem Arbeitskraftmangel: Zeitarbeit nimmt zu. 

Wie stark, zeigt die Umfrage der Diakonie RWL: Von einer Verdopplung in den vergangenen drei Jahren berichten Krankenhäuser, Träger der stationären Altenhilfe und der KiTa-Bereich. Von Steigerungen um 150 Prozent berichten Träger der ambulanten Pflege sowie Wohnheime und Werkstätten für Menschen mit Behinderungen.

2. Der Kompromiss: Zeitarbeit als Zwischenlösung

Was als Überbrückung in Arbeitsspitzen gedacht war, wird mehr und mehr zum Regelfall. "Ziel aller politischen Anstrengungen muss es sein, die Daseinsvorsorge im pädagogischen, pflegerischen und Gesundheitsbereich so zu finanzieren, dass die reguläre Beschäftigung wieder attraktiver wird", fordert Kirsten Schwenke, Vorständin der Diakonie RWL. Dabei geht es oft nicht nur um mehr Geld – sondern um bessere Arbeitsbedingungen wie sichere Dienstpläne mit geregeltem Frei und mehr Zeit für pädagogische oder pflegerische Handlungen. 

Aktuell tritt Zeitarbeit in der Umfrage der Diakonie RWL bei zwei Dritteln der beantworteten Fragebögen von Krankenhäusern und in der stationären Altenpflege auf. Zwei von fünf Einrichtungen für Menschen mit Behinderung nutzen Zeitarbeit. Auffällig ist, dass auch Bereiche betroffen sind, bei denen dies früher undenkbar war: So greift fast jede fünfte KiTa auf Zeitarbeiter*innen zurück sowie jede zehnte Einrichtung der stationären Jugendhilfe. "Bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, bei denen eine vertrauensvolle Bindung an das pädagogische Personal wichtig ist, sehen wir Zeitarbeit sehr kritisch", sagt Kirsten Schwenke. 

3. Das Problem: Träger bleiben auf den hohen Kosten für Zeitarbeit sitzen

Ein großes Problem sind die hohen Kosten, die mit jeder hinzu gebuchten Arbeitskraft einhergehen. Diese kosten zwischen 20 bis 50 Prozent mehr als das Arbeitgeberbrutto bei einer Festanstellung. "Eine Pflegefachkraft mit fünf Jahren Berufserfahrung verdient bei der Diakonie ohne Schicht- und Wochenendzuschläge etwa 48.000 Euro im Jahr", sagt Kirsten Schwenke. Für eine vergleichbare Zeitarbeitskraft müssten die Betriebe zwischen 60.000 und 85.000 Euro bezahlen. "Diese Mehrkosten bekommen unsere Träger von den Pflegekassen nicht refinanziert." Je nach Größe des Trägers können sich die offenen Beträge von mehreren Hunderttausend Euro auf bis zu einstelligen Millionenbeträgen summieren.

4. Die gesellschaftliche Frage: Geld wird dem Sozialsystem entzogen

Zusätzlich zu diesem Problem weist Diakonie RWL-Vorständin Kirsten Schwenke noch auf einen weiteren Punkt hin: "Die Politik muss die Frage beantworten, ob Steuergeld sowie Geld der Kranken- und Pflegekassen, das für die Daseinsvorsorge und den gesellschaftlichen Zusammenhalt gedacht ist, in diesen Dimensionen an nicht-gemeinnützige Privatfirmen überwiesen werden soll." Denn wenn jährlich Millionen Euro dem Sozialsystem entzogen werden, verlassen diese nicht nur den regionalen Wirtschaftskreislauf, sondern verbleiben als Gewinne bei Investoren. "Dieses Geld fehlt in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft, um unsere Arbeit zukunftssicher aufzustellen – etwa bei der Digitalisierung oder Investitionen zur Bekämpfung des Klimawandels." Das schade langfristig der Allgemeinheit.

5. Die Lösungen: Zeitarbeit regulieren und Regelsysteme stärken

Solange Einrichtungen auf Zeitarbeit angewiesen sind, muss diese refinanziert werden. Hilfreich wäre, die Kosten zu deckeln, damit Forderungen der Zeitarbeitsfirmen nicht in Wucher ausarten. Als Orientierung könnten die Stundensätze dienen, die die Diakonie ihrem eigenen Personal zahlt und die im Branchenvergleich stets mit an der Spitze stehen. Auch trägereigene Personalpools sollten ermöglicht und refinanziert werden. Seit vielen Jahren machen die Unikliniken damit sehr gute Erfahrungen.  
Wünschen sich Zeitarbeiter*innen wieder einen regelhaften Job in einem festen Team, dann sollte dies so leicht wie möglich gestaltet werden: Verträge, die wie bisher Ablösesummen oder Karenzzeiten vorschreiben, sollten verboten werden.
In Richtung Bundesregierung schicken viele diakonische Träger eine klare Bitte: "Wir können den Arbeitskräftemangel nur mit Zuwanderung begegnen. Die Zugänge zum deutschen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt müssen dringend erleichtert werden."
Für RWL-Vorständin Kirsten Schwenke ist klar: "Auf absehbare Zeit werden viele Träger auf Zeitarbeit angewiesen sein, um Klient*innen und Bewohner*innen umfassend helfen zu können. Gemeinsam mit den politischen Entscheider*innen müssen wir uns aber darüber verständigen, wie unsere Sozialsysteme so gestärkt werden, dass Zeitarbeit unattraktiver wird. Sie muss sinnvoll so gesteuert werden, dass sie den Einrichtungen hilft, auch weiterhin Belastungsspitzen abzudecken. Aber sie muss so bezahlt werden, dass ihnen Luft zum Atmen bleibt."