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Boykott der Paralympics
"Ein richtiges politisches Signal"

Überschattet von der Krim-Krise beginnen die Winter-Paralympics in Sotschi. Im Deutschlandfunk begrüßte der Präsident des Deutschen Behindertensport-Verbandes, Friedhelm Julius Beucher, den Boykott der Bundesregierung und anderer Länder - lehnt ihn aber für die Sportler ab.

Friedhelm Julius Beucher im Gespräch mit Dirk Müller | 07.03.2014
    DBS-Präsident Friedhelm Julius Beucher blickt in die Kamera.
    DBS-Präsident Friedhelm Julius Beucher fordert eine langfristige Förderung des Behindertensportes. (dpa/Julian Stratenschulte)
    Dirk Müller: Russland, Wladimir Putin, die Krim und die Ukraine, dies alles wirft auch einen Schatten auf Sotschi, ab heute Schauplatz der Paralympischen Winterspiele. Wieder fordern Kritiker einen Boykott, wieder gibt es reichlich Kritik daran, die Spiele ausgerechnet nach Russland vergeben zu haben.
    Wir bleiben bei diesem Thema. Jetzt ist sie nämlich da, die ganz große politische Krise, die vielleicht größte Krise in Europa seit dem Zusammenbruch des Ostblocks oder der Sowjetunion vor 24 Jahren. Die deutsche Haltung ist wie so oft verwirrend, zumindest die Haltung der Bundesregierung. Erst ist die Rede davon, dass sämtliche politische Repräsentanten nicht nach Sotschi reisen. Dann ist die Rede von zwei Staatssekretären, die doch fahren sollen. Und dann wird das alles wieder gecancelt.
    Am Telefon ist nun Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensport-Verbandes, viele Jahre auch Bundestagsabgeordneter der SPD. Guten Morgen nach Sotschi!
    Friedhelm Julius Beucher: Guten Morgen!
    Müller: Herr Beucher, wie mulmig ist Ihr Gefühl?
    Beucher: Ja. Es entspricht nicht dem Wetter, das ist hier Frühlingswetter, weil, wie Sie eben richtig gesagt haben, die Nachrichten nicht klar sind. Wir haben die Information, dass kein Minister, kein Staatssekretär und kein Beamter des Ministeriums kommt. Das ist der Fakt. Zwei Bundestagsabgeordnete sind gestern Abend angekommen, Matthias Schmidt von der SPD und Dr. André Hahn. Jetzt füge ich natürlich hinzu: Abgeordnete sind frei gewählt und nur ihrem Gewissen unterworfen und keinen Direktiven. Die Mannschaft ist zurzeit noch mit leichtem Training befasst und heute Abend marschieren wir ein in das Stadion in Sotschi zur Eröffnungsfeier. Das wird mit Sicherheit keine Jubelfeier in Richtung russischem Gastgeber, sprich in Richtung Herrn Putin oder seinem Stellvertreter, der gestern im Dorf war. Da fühlen wir uns auch voll solidarisch mit den ukrainischen Sportlerinnen und Sportlern, die gestern im paralympischen Dorf oben auf dem Berg eine stumme Demonstration unter großem Beifall der anderen Nationen gemacht haben. Sie haben beim Überreichen der Gastgeschenke eine große ukrainische Flagge und eine ukrainische Landkarte dem russischen Gastgeber übergeben, wo die Krim besonders gekennzeichnet war, und haben "Ukraine, Ukraine" gerufen und danach immer das Wort "Mir, Mir" für Frieden.
    Müller: Herr Beucher, wir erreichen Sie über ein russisches Handy. Die Verbindung ist ganz gut. Wir hoffen, dass sie noch die nächsten Minuten halten wird. – Sie haben jetzt den Istzustand beschrieben. Meine Frage, ich konnte das nicht so richtig heraushören: Finden Sie das richtig, dass die Bundesregierung zumindest gesagt hat, wir schicken keinen als politisches Signal?
    "Ein richtiges politisches Signal"
    Beucher: Das ist, wie ich finde, ein richtiges politisches Signal. Das ist aber auch kein isoliertes Signal, das ist eine Absprache innerhalb der G7-Staaten. Die Engländer haben damit angefangen, das wurde dann fortgesetzt. Es ist also kein ranghoher europäischer Ministeriums- oder Regierungsvertreter hier vor Ort.
    Müller: Und den Sportlern ist das gleich?
    Beucher: Die Sportler bedauern immer, wenn prominente Gäste, die zugesagt haben, nicht kommen. Aber sie haben Verständnis dafür, Verständnis für eine Situation, wo eine politische Entscheidung gefallen ist und wir sportliche Entscheidungen zu treffen haben. Ich weiß, das ist ganz schmaler Grat, auf dem wir uns da bewegen, aber wir kritisieren diese Entscheidung nicht. Im Gegenteil: Wir betrachten sie als einen wirkungsvolleren Beitrag, als wenn unsere Mannschaft gesagt hätte und beschlossen hätte, wir boykottieren das Ereignis.
    Müller: Herr Beucher, wir haben gestern noch mal im Internet die Entfernungen dort verglichen, das versucht auszurechnen. 450 Kilometer, auf diesen Wert sind wir so Pi mal Daumen gekommen, ist Sotschi von der Krim entfernt. Spüren Sie die Krim? Spüren Sie diesen Konflikt?
    Beucher: Nein, hier spürt man nichts. Das ist hier entweder ein Tal der Ahnungslosen oder der Glückseligkeit. Sie haben auch keinen Fernsehzugang. Eben haben wir mal CNN im Hotel gesehen, da ist das aber dann in einem Nachrichtenblock. Da war ein Bild von der ukrainischen Mannschaft, was ich Ihnen beschrieben habe von gestern auf der sogenannten Medals Plaza. Hier ist die Krim nicht vor Ort. Wir beziehen unsere Nachrichten aus Deutschland, in Gesprächen mit Deutschland und aus dem Internet, und deshalb kommt bei uns die Betroffenheit immer ein Stückchen später an.
    Müller: Internet, ein gutes Stichwort. Sie haben also dort freien Zugang zum Internet, da gibt es keine Störungen?
    Beucher: Bis jetzt noch nicht!
    Müller: Herr Beucher, reden wir über die Athleten. 13 deutsche Athleten, die sich in den kommenden neun Tagen, wenn ich das richtig notiert habe, in den Wettkämpfen stellen gegen die anderen. Inwieweit ist das Belastung, das was politisch im Moment als Überbau die ganze Sache überschattet?
    Beucher: Ich glaube, dass unsere Athletinnen und Athleten, wo übrigens noch zwei Guides hinzukommen – unsere sehbehinderten Athleten können nicht ohne Guides auf die Piste, das heißt, da kommen wir dann auf 15 -, das können sie im Kopf frei machen. Entscheidend ist, was drum herum passiert in Sachen Krise Krim, und da nehmen wir nicht an Veranstaltungen teil, die den russischen Staat als Gastgeber haben. Das ist ein kleiner stummer Protest. Wir sind jeden Tag im Training und was den sportlichen Teil angeht: Wir sind nicht hier hingefahren, um hinterherzufahren.
    Müller: Mein Kollege Moritz Küpper, der bei uns noch im Studio ist – Sie haben das Gespräch mit ihm ja eben auch gehört -, schiebt mir noch einen Zettel zu: Fragen Sie nach der Ukraine. Das tue ich jetzt. Ukraine – wird die ukrainische Mannschaft nach Ihrer Information, nach Ihrer Kenntnis heute Abend auflaufen?
    Beucher: Nach meiner Kenntnis von jetzt ja. Heute Mittag gibt es eine Pressekonferenz unten in Sotschi, und da ich gleich runterfahre, weil ich im "Morgenmagazin" des ZDF bin, werde ich an dieser Pressekonferenz auch teilnehmen.
    Müller: Schön und danke, dass Sie bei uns zuerst sind, Julius Beucher. – Reden wir weiter über die sportliche Dimension. Das haben wir noch nicht getan. Wir haben eben einige Fakten von Moritz Küpper bekommen, dass insgesamt der Behindertensport gerade auch bei den Winterspielen oder im Winter zugenommen hat, dass mehr Leistungen gebracht werden, dass auch mehr probiert wird. Ist das ein Ergebnis einer klaren Förderung, einer klaren Absicht?
    Behindertensportförderung bietet noch "Luft nach oben"
    Beucher: Man muss festhalten: In den letzten 10, 15 Jahren hat die Förderung, die öffentliche Förderung wie auch die private Förderung des deutschen Behindertensports zugenommen. Nicht nur, dass da noch viel Luft nach oben ist; es reicht aber kurzfristig nicht, wenn wir international an dieser Leistungsexplosion im internationalen Behindertensport teilhaben wollen.
    Wir haben in Vancouver noch im wahrsten Sinne des Wortes abgeräumt, waren die beste Nation, aber wir haben sehr aufmerksam beobachtet, was sich in den anderen Nationen insbesondere in den nordischen Disziplinen, aber auch in den alpinen Disziplinen getan hat, und das ist unsere Herausforderung nach Sotschi. Was ich aber jetzt schon sagen kann: Mit den bis jetzt zur Verfügung stehenden Mitteln hat es für die Vorbereitung hier gereicht, aber zukünftig oben mitzuspielen – und das ist nicht nur ein sportliches Ziel -, da werden wir eine stärkere Förderung erfordern.
    Erfreulich ist, dass das Medieninteresse weiter zugenommen hat, obwohl da auch noch viel Luft nach oben ist. Es ist, wie Herr Küpper eben richtig sagte, ja immer ein kleiner Teil, wenn ich die Direktübertragungszeiten oder die Bewegtbilder von den Paralympics, ob Winter oder Sommer, verfolge, von denen bei den Olympischen Spielen. Da muss man dran arbeiten. Da sehe ich aber auch eine gute Perspektive, vor allen Dingen auch vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Inklusionsdebatte.
    Müller: Wir werden darüber berichten und die Zeit sagt, wir müssen zu einem Ende kommen. Vielen Dank, Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes. Danke nach Sotschi!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.