Müntefering spricht in BamS über sein Leben nach der Politik: „Er hat sich bemüht" soll auf seinem Grabstein stehen

Franz Müntefering war 59 Jahre berufstätig. Seit der Bundestagswahl ist er Rentner.

Am Tag der Arbeit schimpft „Münte“ über sittenwidrige Löhne, kritisiert die Rente mit 63 und verrät, was auf seinem Grabstein stehen soll

BILD am SONNTAG: Herr Müntefering, Sie waren SPD-Chef, Vizekanzler, Arbeitsminister, saßen 38 Jahre als Abgeordneter im Bundestag. Langweilen Sie sich als Rentner?

Müntefering: Ich bin in kein Loch gefallen. Was wichtig ist: Das Leben muss einen Sinn behalten, damit man nicht plötzlich nichtstuend im Schaukelstuhl endet.

Klappt es denn noch mit dem Joggen?

Müntefering: Ach, Joggen ist ein großes Wort. Ich nenne es schnell gehen. Heute habe ich 3000 Meter in 24 Minuten geschafft. Das ist für 74 Jahre okay.

Nervt Sie gar nichts am Ruhestand?

Müntefering: Ich musste erst das normale Leben wieder lernen. Dass Autos heute sechs und nicht nur vier Gänge haben. Wo man sich eine Bahnfahrkarte kauft. Wie wichtig Büros sind.

Auch wenn jemand als Parteichef, Minister oder Vorstandschef eine herausragende Position hat, kann er die nur erfüllen, weil um ihn herum Leute sind, die die einfacheren Arbeiten erledigen. Es ist ein großes Problem, dass wir in der Gesellschaft die einfachen Arbeiten, ohne die aber alles zusammenbrechen würde, nicht genug wertschätzen.

Heißt das für Sie: Sind alle Arbeiten gleich viel wert?

Müntefering: Zumindest bezahlen wir einfachere oft sittenwidrig niedrig. Und die, die viel gelten, sittenwidrig hoch.

Der Chef der Deutschen Bank bekam 600-mal so viel pro Monat wie eine Krankenschwester. Da ist etwas völlig aus dem Leim geraten.

Was glauben Sie, wie aufgeschmissen der Deutsche-Bank-Chef ohne seine Friseurin, seine Sekretärin, seine Putzfrau wäre? Der kommt nicht allein klar und würde schon nach vier Wochen ganz schön alt aussehen. Wir müssen die einfachen Leute endlich wieder gerecht an der Wertschöpfung beteiligen.

Die Bundesregierung führt einen Mindestlohn ein. Sollte es auch eine Lohnobergrenze geben?

Müntefering: Ich hätte nichts dagegen. Es ist doch nicht solide und nachhaltig, die Gewinne von Unternehmen in aberwitzige Millionengehälter von Managern zu stecken. Statt dieses Geld zu verbrauchen, sollte es lieber in Zukunftsinvestitionen gesteckt werden.

Handelt der Staat nicht mindestens so unsolide?

Müntefering: Wir leben, was die Verkehrsinfrastruktur angeht, von der Substanz. Wenn wir das noch ein paar Jahre länger machen, wird es sehr, sehr teuer. In der Ökologie haben wir begriffen, dass unsere heutigen Fehler in zehn Jahren zu einer Dürre oder einem Hochwasser führen. Aber bei der Verkehrsinfrastruktur und den Bildungsausgaben haben wir das nicht kapiert.

Heißt das, Sie würden die aktuellen Steuerüberschüsse lieber in Straßen und Schulen investieren als in den Abbau der kalten Steuerprogression?

Müntefering: Oder in Schuldenabbau, ja.

Werden Sie aus der SPD noch um Rat gefragt?

Müntefering: Das hält sich in Grenzen. Das muss auch nicht sein. Ich habe ja selbst auch nicht ständig meine Vorgänger angerufen.

Sie haben also keinen Anruf von Andrea Nahles erwartet, bevor sie als Arbeitsministerin die von Ihnen eingeführte Rente mit 67 abschafft?

Müntefering: Die Große Koalition verabschiedet sich eben nicht von der Rente mit 67. Im Jahr 2029 wird die Rente mit 67 gelten. Um das zu erreichen, verschiebt sich die Altersgrenze jedes Jahr um einen Monat nach hinten. Das Gesetz bleibt unverändert bestehen.

Und was erzählt uns dann die Bundesregierung die ganze Zeit?

Müntefering: Es handelt sich eher um eine besondere Kunst der Außendarstellung, die ich teilweise sogar bewundere. Das Einzige, was jetzt anders gemacht wird: Die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge von 1951 bis 1965 bekommen mit einer Sonderregelung einen jährlich schrumpfenden Vorteil und können nach 45 Beitragsjahren eher in Rente gehen.

Sind Sie sauer?

Müntefering: Ich bin nicht begeistert. Das wissen auch alle Beteiligten. Wir senden damit die Botschaft, dass wir unser Rentensystem auch mit weniger Anstrengung in Ordnung halten können. Das ist aber falsch!

Ist die Rente für einen heute 30-Jährigen noch sicher?

Müntefering: Die Rente ist sicher. Nur ihre Höhe nicht. Darum geht’s aber. Ein großes Verhängnis für unser Rentensystem ist die Billiglohnmentalität der vergangenen Jahre. Geiz ist geil ist eine Katastrophe für unser Sozialversicherungssystem. Bei Niedriglöhnen kann am Ende keine gute Rente herauskommen. Die Lohnzurückhaltung der letzten Zeit muss ein Ende haben.

Warum dümpelt die SPD trotz Rentenpaket und Mindestlohn weiterhin bei 25 Prozent in den Umfragen?

Müntefering: Regierungsparteien brauchen den Mut, ohne Angst vor dem nächsten Wahltermin die notwendigen Dinge anzupacken. Das hat die SPD mit vielen Reformen getan. Sie war aber nicht sehr mutig darin, sich dafür selbst zu loben. Es darf nicht wieder passieren, dass die Partei in Distanz zum Regierungshandeln steht. Denn sonst werden die Menschen völlig irre an einem. Ich glaube aber, dass die SPD den Fehler erkannt hat und selbstbewusster auftritt.

Wie lange wird es dauern, bis die SPD wieder den Kanzler stellt?

Müntefering: Das kann man aus heutiger Sicht nicht sagen. Wahlergebnisse hängen sehr an den Personen, die vorn stehen. Irgendwann kam der Punkt, da war Adenauer kein Argument mehr.Irgendwann kam der Punkt, da war Kohl kein Argument mehr. Das wird bei Merkel nicht anders sein.

Fragt sich nur, ob das schon 2017 der Fall sein wird . . .

Müntefering: Das ist offen. Aber die sozialdemokratische Idee ist 150 Jahre alt und nicht am Ende. Da arbeitet man nicht nur in Legislaturperioden, sondern hat eine dauerhafte Verantwortung.

Gehen Sie am 1. Mai demonstrieren?

Müntefering: Ich werde in Herne, wo meine Frau ihren Wahlkreis hat, dabei sein.

Die Arbeitswelt verändert sich rasant. Heute ist jeder per Handy und Laptop rund um die Uhr erreichbar. Segen oder Fluch?

Müntefering: Jedenfalls ein Problem. Mit der Dauerbeschallung an Kommunikation ist Oberflächlichkeit verbunden. Wir begeben uns in die Gefahr, uns so viele Banalitäten mitzuteilen, dass wir den Überblick verlieren. Gleichzeitig wird die Macht, wichtige Informationen und Daten zu kontrollieren, bei einigen wenigen marktbeherrschenden Stellen immer größer.

Ihre Frau ist 40 Jahre jünger. Wie geht die mit Handy und Internet um?

Müntefering: Anders als ich. Ich habe zwar ein Handy, aber das lasse ich auch mal zu Hause liegen. Meine Frau nutzt Facebook, Twitter und würde wohl nicht ohne ihr Mobiltelefon weggehen. Meine Generation musste noch um Informationen kämpfen. Die Generation meiner Frau muss darum kämpfen, in der heute herrschenden Informationsflut das Wichtige herauszufiltern.

Als Sie zusammengekommen sind, waren Sie noch SPD-Chef, Ihre Frau Fraktionsmitarbeiterin. Heute sind Sie Rentner und Ihre Frau macht Karriere als Bundestagsabgeordnete. Ein schwieriger Rollenwechsel?

Müntefering: Das kriegen wir ganz gut hin. Funktionen und Titel haben mir nie etwas bedeutet. Demokratisch legitimierte Macht wohl – etwas bewegen dürfen. Aber ich bin nicht mehr gewählt. Sie zählen morgens unter der kalten Dusche bis 100.

Wie hart sind Sie zu sich selbst?

Müntefering: Sie wissen nicht, wie schnell ich zählen kann. Aber in der Tat mache ich das schon ewig. Das ist gesund.

Wie oft denken Sie ans Sterben?

Müntefering: Öfter als in der Jugend. Aber auch gelassener. Vor Jahrzehnten wollte ich dann am liebsten tot umfallen. Heute möchte ich mich gern mit wachem Kopf von der Welt verabschieden können – in 25 Jahren etwa.

Was soll mal auf Ihrem Grabstein stehen?

Müntefering: Er hat sich bemüht.

Sie sind Katholik, waren Messdiener. Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?

Müntefering: Je älter ich werde, umso weniger. Die Religiosität hat mir in der Kindheit und Jugend viel und dauerhaft gegeben. Aber ich setze jetzt auf Leben, nicht auf danach.

Fehler im Artikel gefunden? Jetzt melden.