EU-Parlamentspräsident Martin Schulz: So nicht, Herr Erdogan!

Der Sozialdemokrat findet klare Worte für den türkischen Präsidenten

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz: So nicht, Herr Erdogan!

Spontane Geste beim Fototermin auf dem Dach des EU-Parlaments: Martin Schulz (60, SPD)

Foto: Niels Starnick
Von: Von ROMAN EICHINGER, SEBASTIAN PFEFFER und NIELS STARNICK

Eine Woche nach den Anschlägen mit 32 Toten ist der Brüsseler Flughafen noch geschlossen. Wir reisen über Köln mit dem Auto in die europäische Hauptstadt. Vor vielen Gebäuden stehen schwer bewaffnete Soldaten, an der Metrostation Maelbeek, einem der Anschlagsorte, liegen Blumen. Das Europaparlament ist am späten Abend fast menschenleer.

Martin Schulz (SPD) betritt das Gebäude zum ersten Mal seit den Terror-Angriffen, begrüßt seine Mitarbeiter herzlich. Schulz ist über Düsseldorf aus Zypern angereist. Dort hat er über das EU-Abkommen mit der Türkei in der Flüchtlingskrise verhandelt.

BILD am SONNTAG: Herr Parlamentspräsident, warum haben wir letztes Jahr mehrheitlich Männer aus Budapest nach Deutschland geholt und lassen nun mehrheitlich Frauen und Kinder in Idomeni sitzen?

MARTIN SCHULZ: „Damals sind wir davon ausgegangen, dass die EU-Staaten zu ihrer Zusage stehen, die Flüchtlinge gerecht zu verteilen. Deshalb hat sich Deutschland großzügig gezeigt. Das ist nicht belohnt worden, und daher brauchen wir jetzt andere Lösungen.“

„Wir müssen Erdogan klarmachen: In unserem Land gibt es Demokratie. Ende“

„Wir müssen Erdogan klarmachen: In unserem Land gibt es Demokratie. Ende“

Foto: Niels Starnick

Wäre Europa ohne die Schließung der Balkanroute komplett abhängig von der Türkei?

Schulz: „Die EU ist nicht abhängig von der Türkei.“

Das sieht die Türkei aber anders.

Schulz: „Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Die Bewältigung der Flüchtlingskrise und die langfristigen Beitrittsverhandlungen oder Visa-Erleichterungen sind aber voneinander zu trennen. Die Türkei hat sichtlich erkannt, dass sie sich Europa mehr zuwenden sollte, um durch Kooperation in der Flüchtlingspolitik wieder mehr ins Spiel zu kommen und daher will sie über den EU-Beitritt auch verstärkt verhandeln.“

Ab Montag sollen alle Flüchtlinge, die in Griechenland ankommen, in die Türkei zurückgeschafft werden und im Gegenzug bis zu 72 000 aus der Türkei in der EU verteilt werden. Glauben Sie, dass das gelingt?

Schulz: „Ich bin optimistisch, dass die Verteilung klappt. Alle EU-Staaten haben dieser Regelung zugestimmt. Allein Deutschland ist bereit, 40 000 Flüchtlinge aufzunehmen, Frankreich 30 000, Portugal 10 000. Und wenn wir es einmal geschafft haben, ein Kontingent in der EU zu verteilen, bin ich zuversichtlich, dass es ab dann funktionieren wird.“

Schulz antwortet freundlich und sachlich. Er ist aber auch ein Mann klarer Worte, hat sich immer wieder mit mächtigen Regierungschefs (Berlusconi, Putin) angelegt. Als wir den türkischen Präsidenten Erdogan und dessen Angriffe auf die Meinungs- und Pressefreiheit ansprechen, kommt er richtig in Fahrt.

Der NDR hat sich in einem Video über den türkischen Präsidenten lustig gemacht. Können Sie verstehen, dass sich Erdogan darüber aufregt?

Schulz: „Politiker müssen mit Satire leben, auch der türkische Staatspräsident.“

Erdogan sieht das anders. Er hat deshalb den deutschen Botschafter einbestellt. Kann man mit so jemandem den wichtigsten Pakt Europas schließen?

Schulz: „Es ist nicht hinnehmbar, dass der Präsident eines anderen Landes verlangt, dass wir in Deutschland demokratische Rechte einschränken, weil er sich karikiert fühlt. Wo kommen wir denn da hin? Das ist absolut unhaltbar, ein starkes Stück! Wir müssen Erdogan klarmachen: In unserem Land gibt es Demokratie. Ende. Aber zu Ihrer Frage: In der Flüchtlingspolitik kooperieren wir mit etlichen Ländern, die nicht das Eldorado der Demokratie sind. Und wir schließen den Pakt nicht mit Herrn Erdogan, sondern mit der türkischen Republik.“

Wo ist der Unterschied?

Schulz: „Wir haben mit der Regierung von Ministerpräsident Davutoglu verhandelt. Der ist ein hochseriöser Partner.“

Anders als Erdogan?

Schulz: „Ich kenne Erdogan lange und gut. Er ist ein Mann klarer Worte. Er versteht aber auch klare Worte. Und hier muss man sagen: Lieber Herr Erdogan, Sie sind einen Schritt zu weit gegangen. So nicht. Satire ist ein Grundelement der demokratischen Kultur.“

In der Türkei ist Satire nicht mehr Bestandteil der demokratischen Kultur. Journalisten werden eingesperrt, Zeitungen geschlossen. Wie soll Europa damit umgehen?

Schulz: „Wir dürfen zu Grundrechtsverletzungen in der Türkei nicht schweigen, nur weil wir in der Flüchtlingsfrage zusammenarbeiten. Im Gegenteil: Wir müssen diese Verstöße anprangern und permanent über Meinungsfreiheit und Menschenrechtsfragen mit der Türkei diskutieren. Ein Land, in dem der Staatspräsident Diplomaten öffentlich attackiert, weil sie einen Prozess beobachten, gehört ebenfalls öffentlich angeprangert. Gleiches gilt für die Kurdenfrage: Hier kann es keine militärische Lösung geben, die Türkei muss zum Friedensprozess zurückkehren.“

Wird es Visafreiheit für die Türkei geben?

Schulz: „Auch da gibt es keinen Rabatt. Hier muss die Türkei erst mal die Voraussetzungen erfüllen und die entsprechenden Gesetze ändern. Die Türkei muss zum Beispiel biometrische Pässe einführen. Das dauert alles.“

Derzeit steigen die Flüchtlingszahlen auf der Mittelmeerroute über Libyen nach Italien. Österreich hat schon angekündigt, notfalls Grenzkontrollen am Brenner durchzuführen. Droht in Südtirol, ein zweites Idomeni zu entstehen?

Schulz: „Nein. Italien hat anders als Griechenland bereits Hotspots an seinen Südgrenzen errichtet. Die italienische Regierung ist gut vorbereitet. Ich glaube auch nicht, dass so viele Menschen übers Mittelmeer kommen werden.“

„Integration ist eine Frage des gegenseitigen Willens, nicht eines Gesetzes“

„Integration ist eine Frage des gegenseitigen Willens, nicht eines Gesetzes“

Foto: Niels Starnick

Warum nicht?

Schulz: „Weil es in der Flüchtlingskrise derzeit mehrere positive Entwicklungen gibt. Der Waffenstillstand in Syrien hält nun schon länger als zwei Wochen. Das ist ein Rekord. Die ISIS-Terroristen werden zurückgedrängt. Mit den auf der Geberkonferenz in London beschlossenen Hilfsgeldern für den Libanon und Jordanien werden die Bedingungen in den Flüchtlingslagern dort erheblich verbessert. Treten dazu die Rücknahmeabkommen in Kraft, bin ich zuversichtlich dass sich der Flüchtlingszuzug reduzieren wird. Ich bin mir ziemlich sicher: 2016 werden wir nicht denselben Druck spüren wie letztes Jahr.“

Könnte die Flüchtlingskrise im nächsten Jahr sogar gelöst sein?

Schulz: „Wir werden die Krise wohl nicht komplett bewältigt haben, aber ich sehe einen Silberstreifen am Horizont.“

In Brüssel hat es vor einer Woche zwei Terroranschläge mit 32 Toten gegeben. Sind die Anschläge auch Folge einer gescheiterten Sicherheits- oder Integrationspolitik?

Schulz: „Wir dürfen die Terroristen nicht zu Repräsentanten ganzer Bevölkerungsgruppen erklären. Steht der Paris-Attentäter Abdelsalam repräsentativ für die Muslime? Nein. Er steht für eine Gruppe, die sich radikalisiert hat, die sich nicht integriert fühlt, oder sich nicht integrieren will.“

Schulz in seinem Büro im 9. Stock des EU-Parlaments mit Roman Eichinger (Mitte) und Sebastian Pfeffer (links) von BamS

Schulz in seinem Büro im 9. Stock des EU-Parlaments mit Roman Eichinger (Mitte) und Sebastian Pfeffer (links) von BamS

Foto: Niels Starnick

Abdelsalam konnte sich in Molenbeek aufhalten, ohne dass jemand die Polizei gerufen hat…

Schulz: „In einem ganz bestimmten Bereich, unter bestimmten Leuten konnte er das, ja. Dafür dürfen wir nicht alle Menschen in Molenbeek in Haft nehmen. Aber es zeigt, dass Ghettoisierung Integration verhindert und zu Parallelgesellschaften führt. Und dass das gefährlich ist.“

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) will Integration per Gesetz zur Pflicht machen. Was halten Sie von dem Vorschlag?

Schulz: „Dann soll er auch gleich einen Integrationskontrollminister ernennen. Ernsthaft: Integration ist eine Frage des gegenseitigen Willens, nicht eines Gesetzes. Deutschland hat bereits alle gesetzlichen Voraussetzungen für erfolgreiche Integration. Die Städte und Gemeinden müssen finanziell so ausgestattet sein, dass sie ausreichend Integrationsleistungen erbringen können.“

Nach unserem Interview muss Schulz noch ein trauriges Telefonat führen. Er kondoliert einem Mitarbeiter des Parlaments, der bei den Anschlägen eine Angehörige verloren hat.

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