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Flüchtlinge

Interview

"Wir haben keine volkswirtschaftliche Aufnahmegrenze"




Arbeitsmarktforscher Herbert Brücker
epd-bild/Stefan Brending/IAB
Dem Ökonom Herbert Brücker geht die Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt nicht schnell genug. Die Beschäftigungsquote entscheidet aber darüber, ob Deutschland unter dem Strich von den Flüchtlingen langfristig profitiert. Das umstrittene Integrationsgesetz hält der Forscher vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung dabei für wenig hilfreich.

Herbert Brücker, Professor für Volkswirtschaftslehre, hat einen Fünf-Punkte-Plan vorgelegt, dessen Umsetzung die Flüchtlinge schneller in Jobs bringen soll. Wo er andere Prioritäten setzt als die Bundesregierung und wie sich die Asylpolitik wandeln muss, verrät der Forschungsbereichsleiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Gespräch mit Dirk Baas.

epd sozial: Rechnen sich Flucht und Migration für den deutschen Sozialstaat?

Herbert Brücker: Das ist eine ganz kritische Frage. Wir haben am Anfang klar mehr Kosten als Erträge, weil eben sehr wenige Menschen arbeiten. Das kann später kippen, aber das lässt sich heute noch nicht genau sagen. Das hängt von vielen Variablen ab. Eine davon ist die Höhe der Rückkehrmigration. Deshalb ist es ist nicht ausgemacht, ob Deutschland am Ende profitiert oder per Saldo Kosten verbleiben. Ich halte mich da mit einem Urteil zurück. Es geht aber auch darum, Menschen, die von Krieg und Verfolgung betroffen sind, Schutz zu gewähren. Klar ist auch, dass man diesen Schutz klug organisieren muss.

epd: Aber der kostet nun mal viel Geld.

Brücker: Sicher, aber die deutsche Volkswirtschaft ist sehr stark. Wir haben mit den Flüchtlingen kein ökonomisches Problem. Es kann sein, dass die Integration Nettokosten verursacht, aber die sind gemessen an der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Landes gering. Wenn wir die Zahlen des Sachverständigenrates zugrunde legen, dann belaufen sich die Ausgaben 2016 auf etwa 0,5 Prozent des Bruttoinlandproduktes. Es gibt keine volkswirtschaftliche Aufnahmegrenze, höchstens eine, die politisch definiert wird. Wir haben eher eine unzureichende Infrastruktur, etwa wenn Wohnraum fehlt. Doch das sind temporäre Probleme.

epd: Zurück zu den Kosten. Wie hoch fallen die aus?

Brücker: Die finanziellen Belastungen hängen davon ab, wie gut und wie schnell es gelingt, die Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Das dauert nach unseren empirischen Erfahrungen bei Flüchtlingen länger als bei anderen Migranten. Aber wir erwarten, dass nach fünf Jahren etwa 50 Prozent von ihnen im Arbeitsmarkt angekommen sind. Nach zehn Jahren sind es 60 Prozent und nach 15 Jahren über 70 Prozent.

epd: Wo liegt die Zeitmarke, ab der sich Kosten und Einnahmen in den Sozialkassen die Waage halten.

Brücker: Das hängt von den Berechnungsgrundlagen ab. Es gibt sehr viele Detailfragen, die man berücksichtigen muss. Nach sieben, acht Jahren dürften die Einnahmen die direkten, persönlich zurechenbaren Kosten etwa für Sozialtransfers übersteigen.

epd: Gibt es wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, wie schnell die Jobintegration gelingen kann?

Brücker: Wir führen eine repräsentative Befragung von Migranten durch, die seit 1995 zu uns gekommen sind. Davon sind etwa 15 Prozent als Flüchtlinge zugezogen. Für die Vergangenheit können wir sagen, dass nach fünf Jahren etwa 50 Prozent, nach zehn Jahren etwa 60 Prozent und nach 15 Jahren rund 70 Prozent einen Job hatten. In der Vergangenheit hatte die Geflüchteten eine ähnliche Qualifikationsstruktur wie die Flüchtlinge heute. Insofern können wir daraus erste Schlussfolgerungen ziehen. Für die Gegenwart haben wir aber noch keine brauchbaren Daten.

epd: Sie arbeiten bereits an einer neuen Studie.

Brücker: Ja. In der Vergangenheit war vieles anders im Umgang mit den Flüchtlingen. Es wurde weniger für die Migration getan als heute. Damals waren die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt viel ungünstiger. Und wir hatten natürlich auch viel weniger Menschen, die nach Deutschland geflüchtet sind.

epd: Wie ist die neue Studie angelegt?

Brücker: Es ist eine repräsentative Längsschnittbefragung. Das heißt, wir verfolgen die Flüchtlinge über einen längeren Zeitraum. Wir bauen gerade einen großen Datensatz auf. In einer ersten Tranche befragen wir 2.000 Personen, am Ende sollen es 4.000 sein.

epd: Und was ist das Ziel?

Brücker: Wir wollen langfristig beobachten, wie sich die Flüchtlinge in alle Bereiche der Gesellschaft integrieren. Das gilt nicht nur für den Arbeitsmarkt, sondern auch für das Bildungssystem und für alle anderen Bereiche. Wir untersuchen auch die Werte und Einstellungen der Geflüchteten. Bis zum Jahresende sollen die ersten Daten vorliegen. Aber auch dann wird man über die Integrationsverläufe noch wenig sagen können, denn die Integration steht ja erst am Anfang. Langfristig werden wir aber die Menschen auch auf der individuellen Ebene genau verfolgen können. Daraus könne wir viel über die Integrationsprozesse und die begleitenden Politikmaßnahmen lernen, durch die Anlage der Studie können wir auch repräsentative Aussagen treffen.

epd: Kommen wir zum Integrationsgesetz, mit dem Sie ja nicht wirklich zufrieden sind.

Brücker: Man darf das Gesetz, das sicher kein Meilenstein ist, nicht überbewerten. Viele Dinge im Gesetz sind durchaus richtig. Zu nennen ist das Angebot von Integrations- und Sprachkursen. Das Gesetz enthält viele kleine Maßnahmen, die bereits in einer längeren Tradition stehen. Der erste Schritt weg vom reinen Prinzip der Abschreckung in der Flüchtlingspolitik wurde im vergangenen Oktober gemacht - aus meiner Sicht skandalös spät. Seit dem sind die Integrationskurse für einen Teil der Asylbewerber geöffnet. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Im Grundsatz ist gegen das Prinzip des Förderns und Forderns nichts zu sagen. Aber das Integrationsgesetz atmet noch beide Ideen, die Abschreckungsphilosophie und die Integrationsidee. Das macht das Gesetz ein Stück weit inkonsistent.

epd: Was sehen sie kritisch?

Brücker: Zunächst mal, dass das Gesetz nur für jene Asylbewerber mit hoher Bleibeperspektive gedacht ist. Das schränkt den Kreis gegenwärtig auf Asylbewerber aus vier Herkunftsländern ein. Damit fallen genau die Gruppen, bei denen die Asylverfahren sehr lange dauern, etwa Afghanen oder Somalier, aus der gesamten Förderung raus. Das ist sehr gefährlich.

epd: Warum?

Brücker: Wir verlieren sehr viel Zeit, die wir später nicht mehr aufholen können. In diesen Fällen dauert es zwischen einem und zwei Jahren von der Einreise bis die Asylverfahren entschieden sind. Und wenn in dieser Zeit nichts passiert, weil die Betroffenen keine Sprach- oder Integrationskurse besuchen können oder nicht am Arbeitsmarkt teilnehmen, dann produzieren wir ein Integrationsproblem.

epd: Viel Kritik gibt es auch an der Wohnsitzauflage.

Brücker: Die halte ich für sehr problematisch. Viele Argumente sprechen gegen sie. Wir wissen aus Studien, dass die Flüchtlinge sich überwiegend in Regionen ansiedeln, wo überdurchschnittlich gute Arbeitsmarktbedingungen herrschen, die Löhne vergleichweise hoch sind und die Arbeitslosigkeit unterdurchschnittlich ist. Darauf nimmt die derzeitige Verteilung nach dem Königsteiner Schlüssel jedoch keine Rücksicht. Deshalb leben viele Asylbewerber in strukturschwachen Regionen. Klar ist auch: Wenn die Betroffenen in ihrer Jobsuche nicht staatlich behindert werden, dann senkt das ihre Arbeitslosigkeit.

epd: Aber die Kommunen haben nicht ohne Grund Angst vor der Ghettobildung.

Brücker: Ja, sie wollen ethnische Konzentration in bestimmten Städten oder Stadtteilen verhindern. Aber hier verweise ich auf ambivalente Ergebnisse in der Forschung. Ethnische Netzwerke sind eine große Ressource, vor allem bei der Suche nach Arbeit. Über 60 Prozent der Flüchtlinge haben in der Vergangenheit ihre erste Stelle in Deutschland durch Kontakte zu Familienangehörigen, Freunden oder Landsleute und nicht durch das Internet oder etwa durch die Bundesagentur für Arbeit gefunden. Wir dürfen die Menschen nicht von diesen Ressourcen abschneiden.

epd: Haben Sie eine Alternative im Blick?

Brücker: Ich würde für eine differenzierte Herausgehensweise plädieren. Bestimmten Kommunen, die unter extrem knappem Wohnraum leiden, könnte man erlauben, den Zuzug von jenen Flüchtlingen zu begrenzen, die überwiegend von Sozialleistungen abhängig sind. Aber dafür bräuchte man klar definierte Kriterien. Aus meiner Sicht gibt es bundesweit aber nur eine bestimmte Zahl an Kommunen, denen es extrem an Wohnungen fehlt.

epd: Sie monieren, dass es viel zu lange dauert, bis hierzulande Flüchtlinge Arbeit finden. Und sie haben einen Fünf-Punkte-Plan vorgelegt, um Abhilfe zu schaffen.

Brücker: Ja, die Menschen schneller in Beschäftigung zu bringen ist er einzige Weg, um die Sozialkassen zu entlasten. Vor allem die jungen Flüchtlinge muss man besser fördern, muss sie in die Schulen und an die Universitäten schicken oder den Weg in eine Ausbildung öffnen.

epd: Was schlagen Sie mit Blick auf Ihren Fünf-Punkte-Plan vor?

Brücker: Zentral ist das schnelle Erlernen der deutschen Sprache, was am besten gelingt, wenn man die Flüchtlingskinder sofort in das bestehende Bildungssystem integriert. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren liegt bei knapp 30 Prozent. Bei älteren Flüchtlingen brauchen wir zunächst eine systematische Erfassung der beruflichen Qualifikationen und anderen Fähigkeiten. Auch sie müssen natürlich möglichst schnell die deutsche Sprache lernen. Ich rate jedoch, die Sprachprogramme mit berufs- oder ausbildungspolitischen Maßnahmen zu kombinieren. Schließlich ist es enorm wichtig, die Arbeitsvermittlung auszubauen und die Asylverfahren deutlich schneller abschließen. Die Menschen brauchen Rechtssicherheit. Das gleiche gilt für Unternehmen, die Flüchtlinge einstellen. Dafür ist eine Aufenthaltserlaubnis von mindestens drei Jahren nötig. Wenn man an diesen Hebeln ansetzt, kann Migration gelingen, denn sie ist kein Selbstläufer.

epd: Sie sagen, entgegen der landläufigen Meinung, es gebe auch genug Jobs in Deutschland für gering Qualifizierte.

Brücker: Ja, mittlerweile ist das so. Wir haben beobachtet, das in den zurückliegenden fünf Jahren 1,1 Millionen neue Beschäftigungsverhältnisse von Ausländern entstanden sind. Und das geschah überwiegende in Branchen, die sich nicht durch ein hohes formales Ausbildungsniveau auszeichnen. Zu nennen sind vor allem die Felder Gastronomie, das Reinigungsgewerbe und die Sicherheitsdienste. Auch das Transportgewerbe, die Lagerhaltung, Pflege und die Landwirtschaft bieten Beschäftigungsmöglichkeiten für neu angekommene Migranten.

epd: Aber bleibt das auch so?

Brücker: So lange die Konjunktur so gut läuft wie derzeit, expandieren alle diese Branchen. Da gibt es weiter eine hohe Nachfrage nach Arbeitskräften. Und es gibt das, was wir in der Forschung "Fahrstuhl-Effekt" nennen: Immer mehr Deutsche ziehen sich aus diesen Bereichen zurück, beziehungsweise steigen in den Branchen auf und übernehmen qualifiziertere Tätigkeiten. So entsteht Platz für andere Arbeitsuchende.

epd: Wieviel Zuzug braucht Deutschland, um auch in Zukunft genügend Arbeitskräfte zu haben?

Brücker: Ohne Zuwanderung würde bis 2050 würde die Zahl der Beschäftigten in Deutschland um 40 Prozent sinken. Und wir hätten einen viel höheren Anteil von Bürgern, die schon im Rentenalter sind. Über den Daumen gerechnet bräuchten wir eine Nettozuwanderung von rund 500.000 Personen pro Jahr, um das Erwerbspersonenpotenzial konstant zu halten. Doch selbst dann hätten wir die Alterung nicht völlig aufgehalten, weil ja die Lebenserwartung stetig weiter steigt. Mit Blick auf die Flüchtlingszahlen liegen wir im Moment klar über einer Nettozuwanderung von 500.000 Personen. Wie sich das in den kommenden Jahren entwickeln und wie die andere Zuwanderung sein wird, kann heute noch niemand voraussagen. Aber eines ist sicher: In diesem Jahrzehnt geht das Arbeitsangebot nicht zurück, sondern steigt. Das Schreckensszenario einer Überalterung in Verbindung mit einem schrumpfenden Arbeitsangebot ist damit zumindest zunächst herausgeschoben.


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