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Gesundheit

Zweifel an der geschlossenen Psychiatrie




Geschlossene Psychiatrie mit vergitterten Fenstern.
epd-bild / Werner Krüper
Geschlossene Türen helfen Psychiatriepatienten nicht: Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie bei 21 psychiatrischen Kliniken in Deutschland. Die Forscher fanden kein erhöhtes Risiko für Suizid, wenn die Türen offen stehen. Die Studie ist umstritten.

Wer sich selbst etwas antun oder gar Suizid begehen könnte, ist in der geschlossenen Psychiatrie am besten aufgehoben - das ist jedenfalls eine weit verbreitete Annahme. Nun kommt ein deutsch-schweizerisches Forschungsteam in einer Untersuchung zu der Erkenntnis: Das ist ein Irrtum. Das Wegsperren" diene eher nicht dem Wohl des Patienten.

"Wirkung wird überschätzt"

Für ihre Auswertung berücksichtigten die Wissenschaftler Krankenhäuser, bei denen es neben offenen Stationen auch geschlossene Abteilungen gab. In diesen ist die Eingangstür verschlossen, Patienten können nur nach Rücksprache mit dem Personal die Station verlassen.

Aus ihrer Studienergebnissen, die sie bei knapp 350.000 Behandlungsfällen aus einem Zeitraum von 15 Jahren gewonnen haben, schlossen die Forscher um Christian Huber von den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel, dass sich das Suizidrisiko in beiden Fällen nicht unterscheidet. "Die Wirkung von geschlossenen Kliniktüren wird überschätzt", erklärt er zu der Studie, die im Juli im Fachblatt "Lancet Psychiatrie" veröffentlicht wurde. "Eingeschlossen zu sein, verbessert in unserer Untersuchung die Sicherheit der Patienten nicht", sagt Huber. Sie stehe der Prävention von Suizid und dem Davonstehlen aus der Klinik teilweise sogar entgegen.

Sein Kollege Martin Zinkler, Chefarzt an der Psychiatrischen Klinik in Heidenheim, hat selber gute Erfahrungen mit der Abschaffung geschlossener Abteilungen gemacht. "Es geht mit den offenen Türen", sagt er. Seiner Meinung nach könnten mittels einer intensiven, notfalls ganztägigen individuellen Behandlung und Beobachtung alle Psychiatrie-Patienten in unverschlossenen Stationen behandelt werden. Eine Ausnahme gibt es natürlich, sagt Zinkler: Wenn ein Gericht nach einer Straftat die Unterbringung in einer forensischen Klinik angeordnet hat.

Eins-zu-eins-Betreuung durch Pfleger

Der Psychiater räumt allerdings ein, dass Verzerrungen durchaus möglich sind. Den Forschern lagen beispielsweise keine Daten vor, wie schwer die Patienten erkrankt waren oder ob sie sich freiwillig oder unfreiwillig behandeln ließen, wie auch seine Berliner Kollegin Iris Hauth betont. Die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) begrüßt dennoch die Veröffentlichung. "Die Grundaussage, dass offene Türen anstrebenswert sind, ist berechtigt", sagt Hauth. "Die Aussage, dass die geschlossene Tür nicht schützt, würde ich aus meiner eigenen Erfahrung unterstreichen."

Für hochgefährdete, suizidale Patienten, die sich kaum kontrollieren können, bedürfe es einer "Eins-zu-eins"-Betreuung durch Pfleger. "Wesentliche Voraussetzung ist immer eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung", erklärt Hauth. Doch gebe es auch eine kleine Gruppe von Patienten - vor allem Patienten, die möglicherweise aufgrund ihrer akuten Erkrankung Dritte gefährden könnten -, für die geschlossene Stationen nötig seien.

Keine einfachen Lösungen

Andere Experten kritisieren die neue Studie deutlich. Thomas Pollmächer, Vorsitzender der Bundesdirektorenkonferenz der Psychiater und Chefarzt der Klinik für Psychiatrie am Klinikum Ingolstadt, kritisiert methodische Mängel und Schwarz-Weiß-Malerei. "Dieses ideologische Konzept der offenen Tür heißt nicht, dass Patienten keine Gewalt angetan wird", sagt er.

Auch auf "offenen" Stationen kontrolliere beispielsweise eine Pflegekraft am Eingang, wer die Station verlässt. "Es gibt Situationen, wo sie einen Patienten nur auf der Station halten können, indem sie entweder die Tür zu machen oder den Patienten fixieren", sagt Pollmächer. Und die Fixierung von Patienten sei ein wesentlich massiverer Eingriff als eine verschlossene Stationstür.

Laut Pollmächer dürfen keine falschen Hoffnungen auf simple Lösungen geweckt werden. "Die Frage ist nicht Tür auf oder zu, sondern wie schaffen wir es, für jeden Patienten die persönliche Freiheit so weit wie möglich zu erhalten", sagt der Psychiater.

Hinnerk Feldwisch-Drentrup

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