sozial-Branche

Interview

Caritas

"Armut in Deutschland wird krass überzeichnet"




Georg Cremer
epd-bild/Caritas
Der Deutsche Caritasverband kritisiert die Skandalisierung von Sozialdaten im bundesweiten Kampf gegen die Armut. Von unseriöser Überzeichnung und "aufgeregter Empörung" hätten Bedürftige nichts, sagte Generalsekretär Georg Cremer im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

"Es ist nicht verkehrt, engagiert über soziale Probleme zu sprechen und über Lösungen zu streiten. Aber dabei müssen wir Nüchternheit, Faktentreue und Empathie für die Armen zusammenbringen", sagte Cremer. Es sei unethisch, "aus vermeintlich anwaltschaftlichem Engagement die Wirklichkeit krass zu überzeichnen." Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Herr Cremer, soeben ist Ihr Buch "Armut in Deutschland" erschienen, das Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) ein weises Buch nennt, dem sie "eine große Leserschaft" wünscht. Ist so viel Lob von der Regierungsbank nicht problematisch?

Georg Cremer: Frau Nahles hat mein Buch positiv besprochen. Ich wüsste nicht, was daran ehrenrührig sein sollte.

epd: Sie beklagen, dass die Armutsdebatte in Deutschland den Armen nicht hilft. Was läuft schief aus Ihrer Sicht?

Cremer: Die Debatte schwankt zwischen Problemverweigerung und Skandalisierung. Ich denke, beides hängt miteinander zusammen. Diejenigen, die zu immer drastischeren Formulierungen greifen, machen es denjenigen leicht, die die Debatte über Armut ohnehin für aufgeblasen halten. Es nützt nichts, dauernd auf die Armutsrisikoquote zu starren und bei einem Anstieg um wenige Promillpunkte Skandal zu rufen. Genauso unsinnig ist es, bei kleinen Schwankungen nach unten zu meinen, die Einkommensverteilung werde gleicher. Man überschätzt dabei die Aussagekraft solcher Stichproben. Die aufgeregte Empörung nutzt den Armen nichts. Wir müssen über Lebenslagen von Risikogruppen sprechen und über konkrete politische Schritte.

epd: Sie kritisieren Forscher wie auch Kollegen aus anderen Sozialverbänden, die immer neue Daten zur angeblich wachsenden Armut hierzulande in "Superlative der Skandalisierung" gießen. Was ist verkehrt daran, bestehende Mängel auch prägnant zu benennen?

Cremer: Es ist nicht verkehrt, engagiert über soziale Probleme zu sprechen und über Lösungen zu streiten. Aber dabei müssen wir Nüchternheit, Faktentreue und Empathie für die Armen zusammen bringen. Es ist unethisch, aus vermeintlich anwaltschaftlichem Engagement die Wirklichkeit krass zu überzeichnen.

epd: Was hat das für Folgen?

Cremer: Ein solches Tun verängstigt und entmutigt. Mich erbost insbesondere, dass damit auch der Sozialstaat in Deutschland diskreditiert wird. Ein Beispiel: 2003 wurde die Grundsicherung im Alter eingeführt. Der Rückgriff auf das Einkommen der Kinder, den die Sozialhilfe kannte, wurde abgeschafft. Bis dahin hatten viele alte Arme keine Sozialhilfe beantragt, um ihre Minirenten aufzustocken, weil sie ihren Kindern nicht zur Last fallen wollten. Durch die Reform stiegen natürlich die Empfängerzahlen. Das würde dann der Politik als Zunahme sozialer Kälte um die Ohren gehauen - auch von Vertretern aus den Wohlfahrtsverbänden, die diese Reform gefordert hatten.

epd: Sie belegen mit Daten, dass die Armut bundesweit vergleichsweise stabil, es gebe keinen kontinuierlichen Abstieg weiter Teile der Mittelschicht nach unten. Warum hält sich dieser Topos so hartnäckig?

Cremer: Insbesondere der Diskurs zur Mitte der Gesellschaft hat sich sehr stark von der Datenlage entfernt. Ich befürchte, dass der sozialstaatliche Diskurs, so wie wir ihn führen, die Abstiegsängste mit befeuert. Wer behauptet, der Sozialstaat erodiere, werde kaputtgespart oder sich gar zur Behauptung versteigt, er wäre zu einem "Suppenküchensozialstaat" herabgesunken, trägt dazu bei, dass sich berechtigte Sorgen in der Mitte bis hin zur Panik steigern.

epd: Ein Kapitel Ihres Buches widmet sich detailliert der Unterscheidung von Armutsrisiko und Armut, Begriffe, die in der öffentlichen Debatte meist synonym verwendet werden. Warum sind die Details der Unterscheidung so wichtig?

Cremer: Mit der Armutsrisikoquote erfassen wir den Anteil der Bevölkerung, deren verfügbares Einkommen niedriger ist als 60 Prozent des mittleren Einkommens. Das ist durchaus ein sinnvolles Verteilungsmaß mit Fokus auf die unterste Einkommensgruppe. Aber es ist erstmal nur eine statistische Konvention. Die Armutsrisikoschwelle für einen Alleinstehenden beträgt je nach Erhebung zwischen 917 und 1.063 Euro. Damit sind auch viele Studierende und Auszubildende statistisch im Armutsrisiko. Wenn wir nicht zwischen Armutsrisiko und Armut unterscheiden, gehörte also die Mehrheit der jungen Erwachsenen in der Ausbildung zum Millionenheer der Armen. Studierende und Auszubildende sind aber eindeutig nicht unsere Problemgruppe.

epd: Linke und Interessenvertretungen von Arbeitslosen trommeln seit Jahren für die Abschaffung von Hartz IV. Für Sie ist das Unfug, denn Sie verteidigen das Grundsicherungssystem mit Vehemenz.

Cremer: Diejenigen, die "Weg mit Hartz IV!" rufen, fordern ja nicht, die finanzielle Unterstützung für Langzeitarbeitslose und die Vermittlung in den Jobcentern abzuschaffen. Man müsste also etwas anderes an die Stelle der Grundsicherung für Arbeitsuchende setzen. Aber auch ein neues System wäre mit einer Überprüfung von Einkommen und Vermögen verbunden, auch da würden die Bäume nicht in den Himmel wachsen.

epd: Wie müsste Hartz IV weiterentwickelt werden, damit Bedürftige besser profitieren?

Cremer: Aufgrund eigener Berechnungen schlagen wir eine Erhöhung des Hartz-IV-Satzes um rund 60 bis 80 Euro vor. Zentral ist auch, die Menschen, die schon lange arbeitslos sind, besser zu unterstützen. Derzeit fördern wir in praxisfernen Parallelwelten. Für eine klar abgegrenzte Zielgruppe brauchen wir einen sozialen Arbeitsmarkt, der Teilhabe sichert, auch wenn der Sprung in den ersten Arbeitsmarkt vorerst nicht erreichbar ist.

epd: Sie schreiben: "Unsere Sozialdaten haben ein Janusgesicht: Sie messen soziale Probleme anhand der Hilfen, die wir bereitstellen." Warum ist das ein Problem?

Cremer: Was wäre denn, wenn die Politik die Forderungen der Caritas oder anderer Wohlfahrtsverbände zur Höhe von Hartz IV umsetzen würde? Wir hätten deutlichmehr Hartz-IV-Empfänger. Denn mehr Niedrigeinkommensbezieher - und wenn entsprechend die Grundsicherung im Alter angehoben wird - auch mehr Bezieher von Minirenten bekämen ergänzende Hilfe. So wie die Debatte in Deutschland geführt wird, würde dies aber wieder als Anstieg der Armut und als Versagen des Sozialstaats gebrandmarkt. Da bin ich mir ziemlich sicher.

epd: In Deutschland arbeiten viele Bürger in Vollzeit, können aber von ihrem Einkommen nicht leben, mit einer Familie schon gar nicht. Dazu bräuchte es vermutlich auch einen deutlich höheren Mindestlohn. Ein heißes Eisen?

Cremer: Vollzeitbeschäftigte sind eine der Gruppen mit einem niedrigen Armutsrisiko. Richtig ist aber, Vollzeitbeschäftigte im Niedrigeinkommensbereich, die für eine Familie Verantwortung tragen, brauchen ergänzende Unterstützung. Bereits heute erfolgt das häufig über den Kinderzuschlag durch die Familienkasse. Die Caritas hat Vorschläge gemacht, den Kinderzuschlag zu einer einkommensabhängigen Kindergrundsicherung weiterzuentwickeln. Man kann die erforderliche Unterstützung nicht mit einem höheren Mindestlohn wegreformieren. Denn dann müsste der Mindestlohn auf so hohem Niveau sein, dass viele Arbeitsplätze verloren gehen. Nur ein moderater Mindestlohn ist sozial.

epd: Kommen wir noch einmal auf Hart IV zurück: Sie fordern einen um 80 Euro höheren Regelsatz. Warum scheint das ziemlich ausgeschlossen?

Cremer: Es kostet Geld. Aber vielleicht ist das noch nicht einmal der entscheidende Grund. Vielleicht hatten die politisch Verantwortlichen auch wenig Lust, sich im kommenden Bundeswahlkampf vorwerfen zu lassen, in ihrer Regierungszeit hätte die Zahl der Hartz-IV-Empfänger zugenommen.

epd: Sie schreiben, dass gegen den Widerstand der Mitte der Gesellschaft den Armen nicht geholfen werden kann. Heißt das, die benötigten Gelder für Reformen und mehr Hilfen müssen vom Mittelstand kommen?

Cremer: Es geht dabei nicht nur um die Finanzierung. Der Sozialstaat ist darauf angewiesen, dass die Mitte sich zu ihm bekennt und Empathie empfindet gegenüber Menschen am Rande der Gesellschaft. Es ist zudem eine Illusion, man könnte den Umfang der staatlichen Ausgaben stark ausweiten, ohne auch die Mitte zu belasten.

epd: Die Caritas fordert seit Jahren, die Bildungs- und Sozialpolitik besser auf die Befähigung der Menschen auszurichten, ihr leben alleinverantwortlich zu gestalten und ihr vorhandenes Potenzial besser abzurufen. Warum gelingt das in den bestehenden Strukturen nicht?

Cremer: Auch hier geschieht viel, auch hier gibt es nicht nur schwarz und weiß. Aber wir sollten den Sozialstaat stärker präventiv ausrichten. Warum scheitert in manchen Kreisen jedes 10. Kind in der Schule, in anderen Kreisen aber nur jedes Fünfzigste? Ein anderes Beispiel: Die Caritas baut derzeit ein Netz früher Hilfen in den Geburtskliniken auf. Sozialarbeiterinnen kontaktieren die jungen Eltern oder alleinstehenden Mütter und informieren über mögliche Hilfen. Ein sehr niederschwelliges Angebot. Aber bisher ist es nahezu unmöglich, solche Innovationen finanziell abzusichern, obwohl die die Mehrkosten gering sind. Hier lähmt der Streit darüber, wer die Kosten dieser Hilfen trägt.

epd: Große Befreiungsschläge sind aus Ihrer Sicht nicht der richtige Weg zum Umbau des Sozialstaates. Sie werben für "Stückwerke des reformerischen Alltags". Klein-Klein statt großer Luftschlösser: Warum führt das aus Ihrer Sicht doch zum Erfolg?

epd: Politik gelingt nur in überschaubaren Schritten. Unser Sozialstaat ist historisch gewachsen, man kann ihn nicht einfach neu erfinden. Auch ist unser Wissen über Wirkungen und Nebenwirkungen jeder Reform begrenzt, wir müssen mit Versuch und Irrtum leben. Wer überschaubare Schritte geht, kann dennoch ein großes Ziel im Auge haben. Die Ausrichtung unseres Sozialstaats auf Prävention, um besser als heute die Entstehung von Armut zu vermeiden, ist ein großes Ziel. Wer die möglichen Schritte als "Klein-Klein" diskreditiert, trägt Mitverantwortung dafür, dass die Armutsdebatte den Armen nicht nützt.


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