sozial-Politik

Armut

Interview

"Die hohe Ungleichheit gefährdet unsere Demokratie"




Marcel Fratzscher
epd-bild/DIW Berlin/B.Dietl
Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW, Berlin), Marcel Fratzscher, hat vor einer weiteren Spaltung der Gesellschaft gewarnt. "70 Prozent der Deutschen empfinden die soziale Ungleichheit als zu hoch. Dies kann die Gesellschaft nicht ignorieren", sagte der Wirtschaftsexperte im epd-Interview.

Deutschland hat die höchste Ungleichheit bei privaten Vermögen im gesamten Euroraum, wie DIW-Präsident Marcel Fratzscher dem Evangelischen Pressedienst sagte. Er forderte "eine massive Bildungsoffensive, um die Schere wieder zu schließen". Die Fragen stellte Markus Jantzer.

epd sozial: In der deutschen Öffentlichkeit wird häufig vor einer "Spaltung der Gesellschaft" gewarnt. Meist ist damit die scharfe Polemik von Pegida und AfD gemeint. Selten ist dabei die Rede von der größer gewordenen Kluft zwischen Armen und Reichen. Woran liegt das?

Marcel Fratzscher: 70 Prozent der Deutschen empfinden die soziale Ungleichheit als zu hoch. Dies kann die Gesellschaft nicht ignorieren. Die Spaltung der Gesellschaft hat jedoch viele Dimensionen, nicht nur politisch, sondern auch sozial und wirtschaftlich. Die Unterschiede zwischen Armen und Reichen ist eine dieser Dimensionen, die wichtig ist und an Bedeutung gewinnt. Viel hat jedoch mit den Ängsten der Menschen zu tun, die Sorge haben, abgehängt zu werden, keine Sicherung im Alter zu haben oder dass es den eigenen Kindern schlechter gehen wird. Es ist Aufgabe von Politik und Gesellschaft, eine weitere Spaltung zu verhindern und das Funktionieren des Gesellschaftsvertrags, der sozialen Marktwirtschaft, kritisch zu hinterfragen.

epd: Rechtfertigen es die Unterschiede bei privaten Einkommen und Vermögen, von einer "Spaltung der Gesellschaft" zu sprechen?

Fratzscher: Die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen hat in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten signifikant zugenommen. Deutschland hat beispielsweise die höchste Ungleichheit bei privaten Vermögen im gesamten Euroraum. Sicherlich zeigt nicht jeder Indikator eine hohe Ungleichheit, aber im Gesamtbild gehört Deutschland zu einem der ungleicheren Länder der westlichen Welt. Es ist in der Tat gerechtfertigt, mit Blick auf die privaten Einkommen und Vermögen von einer Spaltung der Gesellschaft zu sprechen, denn die Unterschiede sind auch enorm beständig - in Deutschland heißt es immer häufiger: Arm bleibt arm und reich bleibt reich.

epd: Etwa jeder Fünfte in Deutschland muss sich in ökonomischer Hinsicht existenzielle Sorgen machen, weil der Arbeitslohn kaum zum Leben reicht, weil der Job zeitlich befristet ist oder weil sich mit der Arbeit keine auskömmliche Rente erzielen lässt. Halten Sie diese Tatsache für demokratiegefährdend?

Fratzscher: Die hohe Ungleichheit von Einkommen und Vermögen in Deutschland spiegelt vor allem auch eine fehlende Chancengleichheit wider. Das Bildungssystem hat große Schwächen, es ist nicht inklusiv genug und legt gerade Kindern aus bildungsfernen und sozial schwachen Familien riesige Hürden in den Weg. Ähnliches gilt in der Familienpolitik, der Arbeitsmarktpolitik und der Steuerpolitik. All dies bedeutet, dass immer mehr Menschen in Deutschland abgehängt werden und nicht wirklich eine realistische Chance haben, ihre Fähigkeiten und Talente zu entwickeln und zu nutzen. Wir wissen aus vielen Studien, dass eine Ungleichheit, die durch eine geringe Chancengleichheit entsteht, großen wirtschaftlichen Schaden anrichtet - und zwar für alle, nicht nur für die direkt Betroffenen. Die hohe Ungleichheit hat auch zu weniger sozialer und politischer Teilhabe geführt, was das Funktionieren unserer Demokratie gefährdet.

epd: Woran liegt es, dass die Schere sich seit Jahren sich kein bisschen schließt?

Fratzscher: Es gibt drei grundlegende Ursachen für die sich öffnende Schere bei Einkommen und Vermögen: der technologische Wandel, schwächer werdende Institutionen und eine geringere Chancengleichheit. Der technologische Wandel wird sich nicht nur fortsetzen, sondern beschleunigen. Deshalb ist es umso wichtiger, über bessere Institutionen, staatlich wie privat, und eine massive Bildungsoffensive die Schere wieder zu schließen.

epd: Ist der entscheidende Hebel für eine Umverteilung die Steuerpolitik des Staates? Mit wie vielen Milliarden könnte der Fiskus die Besserverdienenden zusätzlich belasten, ohne dabei volkswirtschaftlichen Schaden anzurichten?

Fratzscher: Es ist ein Irrglaube, dass die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen langfristig durch höhere Steuern und mehr Umverteilung geschlossen werden könnte. Ein Staat, der immer mehr umverteilen muss, verliert früher oder später seine Leistungsfähigkeit und wird den Menschen immer weniger bieten können. Und die meisten Menschen wollen auch nicht vom Staat abhängig sein, sondern wollen Eigenverantwortung haben, mit der eigenen Hände Arbeit für sich sorgen können.

epd: Was wäre der bessere Weg?

Fratzscher: Der Schwerpunkt der Politik sollte daher auf Chancengleichheit liegen, über Bildung, eine kluge Familienpolitik, eine bessere Arbeitsmarktpolitik und auch mehr Steuergerechtigkeit. Es sollte daher nicht per se um höhere Steuern und höhere Steuereinnahmen für den Staat gehen, sondern um eine zielgenauere Ausgabenpolitik, die wirklich die Menschen erreicht, die staatliche Hilfe benötigen. Das erfordert auch eine Abschaffung der vielen Privilegien für die schon besser gestellten Bürgerinnen und Bürger.

epd: Kann der Staat auf die - an sich unmittelbar verteilungswirksame - Tarifpolitik Einfluss nehmen, indem er die Tarifpartner, insbesondere die Gewerkschaften, stärkt? Wenn ja, wie?

Fratzscher: Ziel der Politik sollte es in der Tat sein, die Tarifpartner zu stärken. Viel zu viele Menschen in Deutschland werden heute nicht durch Tarifverträge abgedeckt - und dies sind meist die Menschen, die geringe Löhne bekommen und in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten. Hier müssen die Tarifpartner und auch die Politik gegensteuern, um einen besseren Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Interessen zu finden. Gleichzeitig warne ich davor, dass die Politik zu stark in den Tarifprozess eingreift, weil sie damit diesen Prozess gefährden könnte.

epd: Inwieweit sehen Sie den Sozialstaat gefordert? Sind Regelsätze für Hartz-IV- und Sozialhilfebezieher von 409 Euro im Monat, wie sie ab 2017 wirksam werden, angemessen?

Fratzscher: Deutschland hat im internationalen Vergleich sicherlich einen sehr guten Sozialstaat, in kaum einem anderen Land ist die soziale Sicherung so gut wie in Deutschland. Immer mehr Menschen sind jedoch immer stärker von staatlichen Leistungen abhängig. Dies bedeutet, dass der Staat allen immer weniger bieten kann. Wir sehen das bei der gesetzlichen Rente, der Krankenversicherung und auch bei der Sozialhilfe und anderen Leistungen. Es ist gerade deshalb so wichtig, die Chancengleichheit zu verbessern, da weniger abhängige Empfänger bedeuten, dass der Staat seine Leistungen für die Bedürftigen verbessern kann.

epd: Wie bewerten Sie die Anhebung des Mindestlohns von 8,50 Euro auf 8,84 Euro ab 2017?

Fratzscher: Der Anstieg des Mindestlohns wird für die deutsche Wirtschaft sicherlich verkraftbar sein. Wichtiger als die Anhebung des Mindestlohns wäre es jedoch, dessen Umsetzung sicherzustellen. Denn die Umgehung ist noch immer weit verbreitet, wofür die Verantwortung sowohl bei Arbeitgebern als auch bei Arbeitnehmern liegt. Langfristig kann aber eine stetige Anhebung des Mindestlohns nicht die Schere bei der Einkommensungleichheit schließen. Die Schere bei den Einkommen wird sich nur dann verkleinern können, wenn viel mehr Wert auf Qualifizierung, Bildung und Inklusion im Arbeitsmarkt gelegt wird. Es gibt zu viele Schulabbrecher, solche ohne Berufsabschluss und ohne ausreichend Unterstützung, um nachhaltig Arbeit zu finden.

epd: Wird sich mit der großen Zahl von Flüchtlingen in Deutschland - also Menschen, die bereit sind, zu niedrigen Löhnen zu arbeiten - die Einkommensschere weiter öffnen?

Fratzscher: Ja, die Einkommensschere wird sich durch die Zuwanderung der Geflüchteten weiter öffnen, denn viele dieser Menschen haben geringe Qualifikationen und brauchen Zeit, um sich zu integrieren. Deutschland kann diese Zuwanderung sehr gut verkraften und wird davon sogar profitieren können, wenn wir uns als Gesellschaft mehr anstrengen, diesen Menschen eine wirkliche Chance zu geben. Dazu müssen wir nicht nur von den Geflüchteten Leistungen "fordern", sondern wir müssen deutlich mehr tun, um diese Menschen zu "fördern", ihnen also eine reale Chance zu geben. Wichtig ist auch zu unterstreichen, dass die überwältigende Mehrheit der Deutschen durch diese Zuwanderung wirtschaftlich gewinnen wird. Denn viele neue Jobs sind dadurch entstanden. Und wir wissen aus Studien, dass Einheimische durch eine große Zuwanderung es häufig schaffen, bessere Jobs mit besseren Einkommen zu bekommen.


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