Diakonie-Präsident Lilie zu sozialen Themen im Wahlkampf

"Ich halte nichts von Skandalisierung"

Die Diakonie Deutschlands konzentriert sich im Wahlkampf auf die Themen Familie, Flucht, Pflege und Armut. Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschland, spricht über den „Sozial-O-Mat“ und darüber, wie sozial gerecht es in Deutschland zugeht.

Diakonie-Präsident Lilie / © Norbert Neetz (epd)
Diakonie-Präsident Lilie / © Norbert Neetz ( epd )

domradio.de: Haben Sie das Gefühl, soziale Themen spielen eine zu kleine Rolle im Wahlkampf?

Ulrich Lilie (Präsident der Diakonie Deutschland): Es ist immer so, bei solch medial inszenierten Wahlkämpfen – da werden dann unterschiedlich thematische Säue durchs Dorf getrieben. Das ganze Thema Diesel hat jetzt eine große Rolle gespielt, natürlich auch die weltpolitischen Themen. Das finde ich auch verständlich. Ich freue mich, dass an einigen wichtigen Punkten, auch in Fernsehdiskussionen soziale Themen diskutiert worden sind. Aber, dass Bildung in dem Spitzenduell nicht vorkommt, vor allem aber Bildungsgerechtigkeit, das sind schon Dinge, bei denen man mit Fug und Recht etwas nachdenklich werden kann.

domradio.de: Immerhin, das Thema "soziale Gerechtigkeit" war eins von vier Themen, die im Spitzenduell der Kanzlerkandidaten vorgesehen war, im Gegensatz zu anderen Themen, wie zum Beispiel Digitalisierung…

Lilie: Das auch ganz zurecht, weil wir schon Gerechtigkeitsthemen in diesem Land auch zu beantworten haben. Es geht vor allen Dingen um zwei wichtige Themen: Das eine ist, dass wir zunehmend ungleiche Lebensverhältnisse in unseren Regionen haben. Köln ist eine Stadt, der es relativ gut geht. Düsseldorf geht’s noch besser, da ist alles umsonst und draußen, selbst für die Menschen, die soziale Unterstützung brauchen, zum Beispiel Kindertagesstätten. Sie fahren eine Viertelstunde nach Duisburg oder Wuppertal, da denken sie, sie sind in einem anderen Land, weil alle diese Leistungen eben nicht umsonst sind, sondern Familien, gerade Alleinerziehende, viel Geld bezahlen. Das heißt, wir haben regional ganz unterschiedliche Bedingungen und die gehen immer weiter auseinander. Ich halte das für ein sozialpolitisches Thema erster Ordnung.

domradio.de: Sie beklagen also eine Ungerechtigkeit. Wenn man sich aber die großen wirtschaftlichen Daten anguckt, wie Arbeitslosigkeit zum Beispiel oder die schwarze Null im Haushalt, diese Regierung hat eigentlich viele positive Ergebnisse vorzuzeigen…

Lilie: Auf jeden Fall, aber die Diskussion wird eben auch sehr undifferenziert geführt. Ich glaube, man darf auch nicht plakativ sagen, wir haben eine zunehmende Spaltung in diesem Land. Ich halte nichts von Skandalisierung, sondern von einem sachkundigen und engagierten Blick in die Tiefe. Da sehen wir, dass bestimmte Menschen, in bestimmten Lebenslagen, in der Tat, was ihre soziale Teilhabe angeht, abgehängt sind und relativ arm sind. Das heißt, wenn man die im weltweiten Vergleich sieht, sind das relativ reiche Leute. Aber in einer Gesellschaft, der es so gut geht, haben sie eben kaum Chancen am normalen Leben teilzunehmen. Darüber müssen wir reden. Das heißt, wir müssen reden wie die Regelsätze berechnet werden, bei Hartz IV. Wir müssen reden, wie es mit den ungefähr drei Millionen Kindern weitergeht, die in Haushalten entweder von Langzeitarbeitslosen, von Alleinerziehenden oder anderen leben, die es schwieriger haben als andere und dadurch von vorne herein, was ihre Bildungs- was ihre Gesundheitschancen angeht, erheblich im Nachteil sind. Wir wissen, dass relative Armut ein Indikator ist, dass die Lebenserwartung zehn Jahre geringer ist als bei anderen Menschen.

domradio.de: Eins ihrer vier Themen im Sozial-O-Mat ist Familie. Da sind die Versprechen vor den Wahlen bei allen Parteien immer groß, auch vor der letzten Bundestagswahl. Am Ende kommen dann ein paar Euro mehr Kindergeld bei rum – und das bei einer Koalition von SPD und Union. Was wäre das Wichtigste einer besseren Familienpolitik?

Lilie: Es kommt darauf an, dass wir sehr früh die Möglichkeiten der strukturellen Hilfe ausbauen. Das heißt, wir brauchen weiterhin das Engagement für einen flächendeckenden Ausbau der Kindertagesstätten, dass Kinder möglichst früh in den Genuss kommen in gut ausgestattete Kindertagesstätten zu kommen, die mit Qualität arbeiten. Das heißt, wir müssen da über den Personalschlüssel reden und wir müssen über die Qualität in diesen Kindertagesstätten sprechen, weil da viele Kinder die formellen und informellen Bildungsvoraussetzungen schaffen werden oder nicht schaffen werden, die für den späteren Schulerfolg und Ausbildungserfolg entscheidend sind. Wir sprechen über Spracherwerb, da reden wir aber auch darüber, dass das Kinder sind, die auch mal eine Stillarbeit machen können und sich darauf eine halbe Stunde konzentrieren können. Das muss man lernen. Die meisten Kinder, zumindest sehr viele, lernen das heute Zuhause nicht mehr.

domradio.de: Für wie wahrscheinlich halten sie es, dass die sozialen Themen auch nach der Wahl, bei den Koalitionsverhandlungen, eine große Rolle spielen werden?

Lilie: Ich glaube schon, dass den großen Parteien, auch einigen der kleineren Parteien, völlig klar ist, dass der soziale Friede und der soziale Ausgleich in unserem Land ein Erfolgsfaktor auch für das Wirtschaftswunder Deutschlands ist und dass sie viel bereit sind dafür zu tun, um diesen Zusammenhalt weiter zu gewährleisten. Bei der Politik ist inzwischen auch angekommen, dass es ein demokratiepolitisches Thema erster Ordnung ist, dass ein Drittel der Menschen gar nicht mehr wählen geht, weil sie sagen – wir finden hier gar nicht statt, unsere Probleme werden gar nicht verhandelt, wir werden hier gar nicht gehört – das ist etwas, was uns allen zu denken geben muss, ich glaube auch in der Politik. Deshalb glaube ich, dass die Einsichten auch quer durch die Parteien dafür sorgen werden, dass es in den nächsten Koalitionsverhandlungen vernünftige Weichenstellungen gibt. Eine unserer Aufgaben als Spitzenverband ist es dafür auch zu sorgen.

Das Interview führte Matthias Friebe.

Redaktion: Christian Schlegel